Nibelungen 08 - Der Ketzerfürst
niedrige Tor am Ende der Treppe stand weit offen. Der große Raum dahinter lag im Zwielicht. Stickige Luft schlug ihm entgegen.
»Mechthild?« flüsterte er. Er würde sein Leben geben, wenn nicht sie es gewesen war, die versucht hatte, den Eber zu töten. Unsicher trat er in den hohen Raum. Es dauerte einige Auge n blicke, bis er im grauen Zwielicht etwas sehen konnte. Der Eber hatte die Schießscharten für den Winter mit Holzläden ve r schlossen, so daß nur noch durch einige schmale Ritzen Licht ins Innere fiel.
Jetzt erkannte Golo das Lager nahe dem verloschenen Kamin. Eine zusammengekauerte Gestalt lag dort.
»Mechthild!« Er rannte quer durch den Raum, stolperte fast über einen schweren Kerzenständer und kniete neben dem L a ger nieder. Das Mädchen war über und über mit Blut bedeckt. Neben ihr lag sein Dolch.
»Nein!« Er konnte es nicht glauben. Das mußte ein Alptraum sein. Sie war doch in seinen Armen eingeschlafen! Was hatte sie hierhergetrieben? Mit zitternder Hand strich er ihr das blutve r klebte Haar aus dem Gesicht. Ihre Lippen bebten. Ihre Haut war noch warm, doch so weiß wie Kalk.
»Ge … liebter … «
Die Stimme des Mädchens war kaum mehr als ein Hauch. Er beugte sich zu ihr hinab. »Ja, meine Prinzessin. Ich bin hier. Es … es wird alles wieder gut. Ich hole die Heilerin … und Be l liesa. Sie wird eines ihrer Zauberlieder für dich singen und … «
»Ver … zeih mir … «
Er wollte etwas sagen, doch seine Kehle war wie zugeschnürt. Sie durfte nicht sterben! Warum war er nicht erwacht, als sie aufgestanden war, um zu gehen?
»Gestern … ich habe immer … nur sein Gesicht … ge … sehen … Ich mußte … mich von ihm … befreien … «
Golo legte sich neben sie. Er nahm sie sanft in die Arme. »Es ist gut. Wir werden aus dem Dorf fliehen und ihn vergessen … Ich werde dich pflegen, und noch bevor der Frühling kommt, wirst du wieder ganz gesund sein. Ich werde dich mit an den großen Fluß nehmen. In mein Dorf … Wir werden heiraten, wenn die Apfelbäume blühen. Es ist schön, dort Hochzeit zu feiern. Wir werden den Apfelwein vom Vorjahr trinken und … «
»Danke … « Ihre Augen weiteten sich. »Ge … liebter … « Ein Zi t tern lief durch ihren Körper.
»Nein!« Golos Schrei hallte dutzendfach von den kalten Ma u ern wieder. Er starrte auf ihren zerschundenen Leib. Der Eber mußte blindlings mit dem Dolch auf sie eingestochen haben, bevor er hinausgelaufen war. Golo schluckte hart und starrte auf die blutverschmierte Waffe. Es war sein Dolch, der ihr den Tod gebracht hatte.
Golo wußte nicht, wie lange er einfach nur vor ihr gekniet und sie angestarrt hatte. So wenig Zeit war ihnen geblieben … Er konnte sich noch an jeden der Sätze erinnern, die sie mite i nander gesprochen hatten. Hunderte Bilder standen ihm vor Augen … Ihr scheues Lächeln, als sie im Wald zusammen g e kocht hatten … Ihr verbissenes Gesicht bei den Schwertkamp f übungen … Die Freude, mit der sie ihn in die Arme geschlossen hatte, als er mit Volker nach Treveris gekommen war, und ihre Tränen, als er sie an dem verregneten Abend auf dem Heub o den über den Pferdeställen zurückgewiesen hatte … Ihr warmer und leidenschaftlicher Kuß, als sie gekommen war, um ihn aus der eisigen Grube zu retten. Er verdankte ihr sein Leben. W a rum war es ihm nicht vergönnt gewesen, auch ihr Leben zu re t ten?
Plötzlich wußte er, was zu tun war. Es galt noch eine Schuld bei ihr abzutragen. Der Eber! Jeder im Dorf sollte wissen, was für ein niederträchtiger Mörder er war! Der Gesetzlose hatte sich gewünscht, ein Held zu sein … Doch Schmutz konnte nicht zu Gold werden …
Golo hob den nackten, geschundenen Körper des Mädchens auf seine Arme. Tränen rannen von seinen Wangen. Er würde sie durch die Straßen tragen, bis er vor dem Eber stand. Und dann würde er Mechthilds Werk vollenden …
In der Tür erschien ein Schatten. Belliesa. »Was willst du tun, Golo?« fragte sie leise.
»Geh mir aus dem Weg!«
Die Bardin blieb ungerührt stehen. »Du wirst nicht dort hi n ausgehen. Volker hat mich geschickt. Sobald die Franken z u rückgeschlagen sind, wird auch er kommen.«
»Ich will, daß alle sehen, was er getan hat! Und dann bring ich ihn um … «
»Glaubst du, daß ist es, was sie gewollt hätte? Alle werden sie nackt sehen, wenn du sie so hinausträgst … Voller Blut … Und es gibt noch etwas, das du bedenken solltest. Viele wissen, daß Volker in der letzten Nacht seine
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