Nibelungenmord
Margit ausgerechnet haben, was ihr zustand und was nicht, was sie einfordern und was abtreten konnte, dachte Jan.
»Ich beschloss, meinen Mann dahin zu holen, wo er hingehörte. Ich war wohl ein wenig hysterisch. Natürlich weiß ich, wo Romina Schleheck wohnt. Als ich bei ihr ankam, war alles dunkel, und ich scheute plötzlich davor zurück, einfach Sturm zu klingeln und die Herausgabe meines Ehemannes zu verlangen. Ich ging um das Haus herum und sah in die Fenster, ob noch jemand wach war.«
Röte flog auf ihr Gesicht und verriet noch mehr als ihre Worte, welchen Anblick sie wohl tatsächlich erwartet – ersehnt? Gefürchtet? – haben mochte.
»Es war alles dunkel, aber ich fand das Atelier. Es war offen. Ich machte Licht. Das Bild lehnte an der Wand. Es war verhüllt, und das hat mein Interesse geweckt. Ich nahm die Decke herunter, und dann sah ich die drei Leinwände.«
Das Bild, dachte Jan. Sie hatte es gesehen. Ihren eigenen Ehemann, nackt, wie Gott ihn schuf. Strahlend, golden und kraftstrotzend, das Zentrum des Universums. Wie mochte das Bild, das selbst bei Jan so einen starken Eindruck hinterlassen hatte, auf die liebende Ehefrau gewirkt haben?
»Was haben Sie gesehen?«, fragte er. Er wollte es aus ihrem Mund hören.
»Ich sah …« Sie zögerte kaum merklich. »Ich sah mich. Eine verbitterte, eifersüchtige, alternde Frau, die mit ihrer Rivalin um einen Mann streitet wie zwei Hündinnen um einen Fetzen Fleisch. Ich hatte noch niemals …« Margits schmale Finger bedeckten ihr Gesicht, und Jan fiel die helle Stelle an ihrem Finger auf, an dem der Ehering fehlte.
»Ich liebe meinen Mann. Bei allem, was ich in den letzten Jahren durchmachen musste, war ich mir immer ganz sicher, dass es richtig war, DASS ich es tat. Weil ich wusste, ich liebe ihn, und er liebt mich auch, irgendwie. Er ist ein wunderbarer Mann, den ich aus Liebe geheiratet habe. Natürlich ist er schwach, wie die meisten Männer, aber er ist ein guter Mann. Einer, für den es sich zu kämpfen lohnt. In guten wie in schlechten Zeiten, so habe ich es ihm einmal versprochen. Ich hatte mich in den schlechten immer der guten Zeiten erinnert und mich darauf konzentriert, wie ich sie wiedergewinnen konnte. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass die schlechten Zeiten aus mir eine andere machen könnten. Und diese andere sah ich plötzlich auf der Leinwand, und sie gefiel mir gar nicht.«
»Kriemhild«, sagte Edith. Ihr Gesicht war ganz konzentriert, und sie betrachtete Margit mit einem Ausdruck, den Jan noch nie an ihr gesehen hatte. »Die Brave, die Gute, die Blonde, die ihre wahre Kraft erst entdeckt, als man ihr den Mann nimmt.«
Margit ignorierte den Einwand und fuhr fort.
»Ich stand lange da und sah mein Bild an. Und dann beschloss ich, nicht zurückzukehren. Ich wollte das alles hinter mir lassen. Ich musste erst einmal darüber nachdenken, wie es weitergehen sollte.«
»Eine Dame verschwindet«, nickte Edith.
Jan sah von einer zur anderen, aber beide schwiegen. »Eine Dame verschwindet? Was ist das, ein Zitat?«
Edith lächelte zufrieden. »Es ist ein Roman, der von Alfred Hitchcock verfilmt wurde. Immer wieder fiel mir dieser Titel ein, aber sosehr ich mir den Kopf zerbrach, der Film hatte nichts mit unserem Fall zu tun. Dafür kam mir immer Agatha Christie in den Sinn. Und Ihnen?« Ediths Frage war an Margit Sippmeyer gerichtet. Diese schien verunsichert. Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee, der inzwischen kalt gewesen sein musste, und zuckte die Achseln.
»Vielleicht«, sagte Edith, »sollte ich an dieser Stelle weitererzählen. Ihnen kam etwas in den Sinn, von dem Sie kürzlich erst gelesen hatten. Eine betrogene Ehefrau, die das Doppelleben ihres Mannes aufdeckt, indem sie einfach verschwindet und ihren Mann der polizeilichen Untersuchung preisgibt.«
Jan blickte von einer zur anderen. »Wovon sprichst du?«, fragte er verwirrt.
»Wie sind Sie darauf gekommen?«, fragte Margit Sippmeyer.
Edith faltete sorgsam ihre Papierserviette und tupfte sich damit die Lippen ab, ehe sie weiterredete.
»Sie besitzen viele Biographien, die meisten haben Sie mehrfach gelesen, wenn ich den Zustand der Bücher richtig interpretiere. Auf Ihrem Nachttisch aber lag eine, deren Geschichte eine verblüffende Ähnlichkeit mit Ihrer Situation aufwies.«
»Nämlich?«, fragte Jan. Er sah ungeduldig aus.
»Einen Moment noch«, sagte Edith würdevoll. »Erst einmal muss ich das mit dem Bücherregal erklären. Es ist so
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