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Nibelungenmord

Nibelungenmord

Titel: Nibelungenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merchant
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einem der Suchplakate gestanden hätte, Elena hätte sie nicht erkannt. Ohne Schminke waren ihre Augen in dem blassen Gesicht kaum auszumachen, ihre Haare klebten farblos am Kopf. Man sieht jedes ihrer vierzig Jahre und noch einiges dazu, dachte Elena.
    Jan öffnete die Augen, kaum dass ihn der nasse Lappen berührte. Er sah verwirrt aus.
    Elena nickte Margit Sippmeyer zum Dank knapp zu. »Mein Name ist Vogt, Kriminalpolizei.«
    »Margit Sippmeyer, angenehm.«
    Jan gab ein leises Husten von sich, und sofort kniete Elena neben ihm nieder. »Geht es dir gut, Jan?«
    Er nickte, ohne zu sprechen.
    »Was ist passiert?«
    Jans rechtes Lid zuckte, aber er hielt ihren Blick fest. »Der Junge«, sagte er. »Sven. Er hat meine Waffe. Und das Mädchen hat er auch.«
    Aus der Ecke, in der Margit Sippmeyer stand, erklang ein hoher klagender Laut, aber Elena achtete nicht auf sie.
    »Passen Sie auf Jan auf«, sagte sie zu Edith. »Hoch, Reimann. Ich komme mit.«
    Aber sie fanden den Jungen nicht.
    Die angeforderten Kollegen waren eingetroffen und gleich darauf wieder ausgeschwärmt, um bei der Suche nach Sven und Lara zu helfen. Auch der Krankenwagen war nach geraumer Verspätung eingetroffen. Die Sanitäter hatten Jans Wunde behandelt und seine Weigerung, sich ins Krankenhaus fahren zu lassen, vergleichsweise widerstandslos hingenommen, woraus Jan schloss, dass die Verletzungen tatsächlich nur oberflächlich waren.
    »Der Klebeverband reicht fürs Erste«, sagte der glatzköpfige Sanitäter und klappte seine Tasche zu. »Lassen Sie den Mullverband darüber, und achten Sie darauf, dass Sie sich nicht ruckartig bewegen. Von Rechts wegen müssten wir Sie mitnehmen, weil Sie den Krankenwagen gerufen haben.«
    »Das war mein Kollege«, sagte Jan und hob probeweise den Arm. Es tat weh. Er überlegte, ob er zur Sicherheit seinen Dienstausweis zücken sollte. »Wir sind in einem wichtigen Einsatz, da kann ich nicht ins Krankenhaus.«
    Im Einsatz, dachte Jan. War er das noch, ohne Dienstwaffe? Und würde er es jemals wieder sein, wenn seine Fahrlässigkeit erst zu Protokoll gegeben worden war?
    Als er den Sanitäter verabschiedet hatte und zurück ins Wohnzimmer trat, hatte Margit Sippmeyer Kaffee und Kuchen auf den Tisch gestellt. Zwar sah sie so glanzlos und unscheinbar aus wie zuvor, aber die Gastgeberrolle, in die sie sich mit bemerkenswerter Selbstverständlichkeit gefunden hatte, verlieh ihr eine gewisse Würde.
    Die Geschichte von Margit Sippmeyers Verschwinden würde er immerhin als Erster hören, das konnte ihm niemand nehmen. Meine letzte Befragung, dachte er, ehe er das Wort an sie richtete. »Was ist in der Nacht passiert, in der Sie verschwunden sind?«
    Margit Sippmeyer ließ sich mit ihrer Antwort Zeit. Sie legte die silberne Gabel neben das Stück Zitronenrolle, die sie nicht angerührt hatte, und starrte aus dem Fenster, wo hinter den dichten Hecken und Mauern unsichtbar der Rhein floss.
    »Ich konnte nicht schlafen«, begann sie. »Mein Mann war nicht da, und ich dachte, nein, ich wusste, dass er bei der anderen war. Die Affäre läuft schon lang, einige Jahre, aber wir hatten uns alle irgendwie damit arrangiert. In dieser Nacht aber war das anders, ich wurde vierzig.«
    Jan öffnete den Mund für eine Zwischenfrage und schloss ihn wieder. Keine Zwischenfragen. Das sollten seine Kollegen später tun, wenn sie das Protokoll aufnahmen.
    »Vierzig war immer eine beängstigende Zahl für mich. Ab dann war ich alt. In dieser Nacht kam mir alles noch viel schlimmer vor. Nachts ist ja immer alles schlimmer, aber da, ohne Michael … Verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe im Leben alles erreicht, was ich wollte, ich habe ein wunderbares Haus, einen tollen Mann und einen Sohn, aber in dieser Nacht wollte ich einfach nicht allein sein. Es ist so schlimm, allein zu sein, wenn man nicht schlafen kann.«
    Jan registrierte die Reihenfolge von Margit Sippmeyers Schätzen ganz nebenbei und verkniff sich die Frage, die sich ihm aufdrängte.
    »Ich kann oft nicht schlafen. Ich nehme regelmäßig Beruhigungsmittel, doch an diesem Abend wollte ich nichts nehmen, weil ich am nächsten Tag ja ausgeruht sein musste für die Party. Die Schlafmittel machen mich benommen, und man sieht so aufgequollen aus. Außerdem wollte ich keine Tabletten, sondern meinen Mann, und ich finde, in einer solchen Nacht steht das einer Frau auch zu.« In dem kaum merklichen Zögern, das ihre Forderung begleitete, verbarg sich so viel. Wie oft mochte sich

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