Nibelungenmord
hinten, in den Höhlen, hatte er gesagt. Wo früher die Bunker waren. Toter Briefkasten und so. Das nutzen wir schon lange.
Und heimlich hatte er gedacht, dass diese Höhlen für das, was er tun würde, genau richtig waren. Mehr hatte er nicht gedacht. Er hatte schließlich keine Wahl. Es war wie mit den Orks. Wenn Orks hinter einem her waren, hatte man auch keine Wahl, oder? Er oder die Orks. In dem Fall hieß es: Er oder die Koller. Dass es absolut keinen anderen Ausweg gab, weil ein Leben ohne Lara absolut undenkbar war … Darüber hatte er gar nicht nachdenken müssen.
Wie ein Schaf war sie ihm ins Tal gefolgt. Wie ein Schaf zur Schlachtbank.
Er hatte später ganz vergessen, den Anruf vom Anrufbeantworter zu löschen, wahrscheinlich hatte sein Vater ihn abgehört, aber das war egal, sein Vater hatte sowieso nicht die Eier, ihn danach zu fragen. Hatte er nie.
Mit Schwung schloss Sven die Nachttischschublade. Es gab keine Tabletten in diesem Zimmer. Dafür hörte er unten Stimmen. Das mussten die Bullen sein.
*
Sie sahen Jans reglose Gestalt durch das Wohnzimmerfenster. Die Terrassentür war aufgehebelt, und so mussten sie wenigstens keine Zeit damit verschwenden, sich Zutritt zu verschaffen.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße!«, fluchte Elena, während sie neben ihrem Kollegen auf die Knie ging und seinen Ärmel hochschob. Blut, überall. Und es war ihre Schuld.
Sie hätte auf Jan hören und sofort kommen sollen. Ihre Finger fuhren unruhig seinen Unterarm auf und ab, ehe sie den Puls fanden. Er schlug stark und gleichmäßig. Der Atem entfuhr Elena als lautes erleichtertes Keuchen. Jan lebte.
Während sie Reimann erregt in sein Handy schreien hörte, riss sie Jans Hemd auf. Die Kugel hatte auf wundersame Weise den Weg zwischen Oberarm und Brustkorb ins Polster des Sessels gefunden. Ein Streifschuss, sonst nichts.
»Jan!« Die alte Dame, die an der Tür zum Flur lehnte und mit verkrümmter Hand ihre Perlenkette umklammerte, musste seine Großmutter sein.
Elena richtete sich auf, sah das Blut an ihrer Rechten und verbarg sie hinter ihrem Rücken. »Er lebt. Es ist nur ein Streifschuss, sieht schlimmer aus, als es ist.«
»Der Krankenwagen kommt in etwa zehn Minuten.« Reimann klappte sein Handy zu. »Sie müssen Jans Oma sein. Reimann, Kriminalpolizei. Und das ist meine Kollegin Vogt.«
Die alte Dame nahm keine Notiz von ihnen. Sie sah uralt und sehr zerbrechlich aus, als sie neben ihrem Enkel auf den Boden sank. Vorsichtig griff sie in das blutige Hemd und vergewisserte sich, dass Elena die Wahrheit gesagt hatte.
»Es ist wirklich alles in Ordnung«, beteuerte Elena und hoffte, dass ihre Stimme beruhigend klang.
»Warum ist er dann ohnmächtig?«, zischte Reimann ihr viel zu laut zu.
Trampel!, dachte sie und warf einen besorgten Blick auf die alte Dame, um zu ihrer Überraschung festzustellen, dass diese lächelte. Sie entnahm ihrer altmodischen Handtasche ein Stofftaschentuch und versuchte, sich damit zu säubern, doch vergeblich. Das Blütenweiß des Taschentuchs wurde fleckig vom Blut, ohne dass die Hände der alten Dame sauberer wurden. Schließlich gab sie auf.
»Er konnte schon als kleiner Junge kein Blut sehen. Immer, wenn er geblutet hat, ist er ohnmächtig geworden.«
»Oh«, machte Elena.
»Wir sollten einen Lappen nass machen, das hat immer geholfen.«
Elena spürte, wie sich ein Grinsen auf ihr Gesicht stahl, und kämpfte es nieder. Die Situation wurde unfreiwillig komisch, aber das hieß nicht, dass keine Gefahr mehr bestand.
»Wo bleiben die Kollegen?«, fragte Reimann, der offenbar ähnlich empfand. »Wir müssen das Haus sichern. Ich gehe da jetzt hoch. Der Junge muss irgendwo sein.« Er zog seine Walther.
»Warte. Geh da nicht allein hoch. Wir warten auf Verstärkung«, sagte Elena.
»Dann haut er ab. Falls er überhaupt noch da ist.«
»Geh nicht, Reimann«, sagte Elena. Sie biss sich auf die Lippen. Was war das, hatte sie etwa Angst um ihn?
»Ich hole erst mal einen nassen Lappen für Ihren Kollegen.« Die Stimme kam aus der Ecke. Elena richtete sich auf und sah auf die schmale, unscheinbare Frau, die in der Küche verschwand, ehe jemand etwas erwidern konnte.
Wer war die Frau? Die Sache lief jetzt endgültig aus dem Ruder.
»Wie kommt diese Frau hier rein?«, zischte Elena.
»Diese Frau«, sagte die alte Dame, »ist Margit Sippmeyer.«
Frau Sippmeyer kam mit einem Tuch zurück und beugte sich über Jan. Sie sah anders aus als auf den Fotos, und selbst wenn sie neben
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