Nibelungenmord
hatte.
Dieser kleine Drache hatte ihr, finanziell gesehen, das Leben gerettet. Sie druckte ihn auf Pappe, malte ihn auf Keramik, pinselte sein freundliches Gesicht auf Briefkästen und Kindergarderoben. Und die Tagestouristen, die im Sea-Life-Center noch nicht genug Geld losgeworden waren, entdeckten beglückt ihren kleinen Laden und kauften noch ein paar Erinnerungen, ehe sie in ihre SUVs stiegen und nach Hause fuhren.
Sie musste dem kleinen Drachen dankbar sein, ebenso wie seinem Freund, dem Seepferdchen. Stattdessen hasste sie beide.
Fünf vor sechs. Längst war es dunkel geworden. Heute würde sich bestimmt niemand mehr in ihren Laden verirren. Romina schloss die Tür, drehte das Schild auf »Geschlossen« und löschte das Licht, bevor sie in den kleinen Raum neben dem Lager trat, der ihr als Teeküche diente. Ein kleines Fenster ging auf die Gasse hinaus, die von der Hauptstraße zur Rheinpromenade führte.
Der Tee war noch heiß, aber er war bitter geworden, und sie schüttete ihn weg. Sollte sie neuen kochen? Sollte sie nach Hause fahren?
Ihr Atem flatterte. Sie wurde wieder so nervös. Erneut flog ihr Blick zum Fenster. Niemand zu sehen, dachte sie, ohne dass diese Feststellung sie beruhigte.
Und während sie den Wasserkocher füllte und anstellte, gestand sie sich ein, worauf sie wartete.
Auf die Polizei.
Längst hatte das Verschwinden von Margit Sippmeyer in Königswinter die Runde gemacht, ebenso die Leiche im Nachtigallental. Da war es nicht schwer, eins und eins zusammenzuzählen.
Ob es einen besseren Eindruck machte, wenn sie selbst zur Polizei ging und alles sagte, was es über die tote Frau zu berichten gab? Denn daran, dass Margit tot war, bestand kein Zweifel. Und bei allem Entsetzen fühlte Romina auch Erleichterung darüber, dass endlich etwas geschehen war. Dass endlich eines dieser vielen Hindernisse, die ihr die Sicht versperrten, beseitigt war.
Ob sie das der Polizei sagen würde?
Tee würde ihr guttun. Romina hängte einen Beutel in den Becher und goss kochend heißes Wasser darüber. Dann drückte sie den Knopf der kleinen Stereoanlage. Tori Amos. Leise summte sie mit.
Das Telefon stand bereit. Sie musste nur die Nummer der Polizei wählen.
Wie würde es dann weitergehen? Würde man sie verhaften? Verdient hatte sie es. Sie hatte sich schuldig gemacht. Ohne sie wäre Margit noch am Leben.
Unvermittelt musste sie an die Kundin von vorhin denken. Sie war nett gewesen, voll ehrlicher Bewunderung über Rominas Handwerk. Sie konnte nicht wissen, wie es Romina stach und pikste, wenn man ihre Sachen ständig mit Diddel und Micky Maus verglich. Sie konnte nicht wissen, dass sie etwas anderes wollte für ihr Leben. Wenn sie damals auf der Kunsthochschule gewusst hätte, dass sie mit sechsundfünfzig in Königswinter sitzen und Souvenirs verkaufen würde, hätte sie wahrscheinlich ihr Studium abgebrochen oder den Strick genommen.
Königswinter, dachte sie. Nicht davor und nicht dahinter. Das sangen die holländischen Kegelclubs, wenn sie abends durch die Straßen zogen, trunken vom Rheinwein.
Eine kleine Chance gab es, dass sich etwas ändern würde, eine winzige. Die Kuratorin hatte verhalten optimistisch geklungen, als sie am Telefon den Empfang ihrer Unterlagen bestätigt hatte. Vielleicht war das nur Höflichkeit gewesen, aber Romina hatte Hoffnung geschöpft. Vielleicht war das ein Fehler. Manchmal war Hoffnung nicht der richtige Weg. Was, wenn sie enttäuscht wurde?
Sie trank viel zu hastig und verbrannte sich prompt die Zunge.
Heute war es schlimmer als sonst. Die Unruhe und auch die Angst. Es lag etwas in der Luft, ein drohendes Unheil oder eine Veränderung, und manchmal war beides dasselbe.
Als das Telefon klingelte, schrak sie zusammen.
Es war Michael, und er klang ganz anders als sonst.
»Bist du allein?«, fragte er anstelle einer Begrüßung.
»Natürlich bin ich allein. Ich schließe gerade den Laden ab. Was ist denn los?«
»Ist die Polizei schon bei dir?«
»Die Polizei?« Eigenartig, dass sie derart zusammenschreckte, hatte sie doch selbst auf die Polizei gewartet. Sie stellte den Becher so hastig ab, dass der Tee über den Rand schwappte.
»Die Polizei war hier, und irgendjemand hat deinen Namen ins Spiel gebracht, ich habe keine Ahnung, wer das war. Sie werden dich fragen, wo du gestern Abend gewesen bist. Margit ist verschwunden, als ich bei dir war. Das ist auf jeden Fall der Zeitraum, den sie vermuten.«
»Was ist mit Margit?«
»Ich fahre gleich mit
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