Nibelungenmord
Erinnerung zu einem chaotischen Film von der Länge eines Werbespots, an dessen Ende Nicoletta mit zwei riesigen Koffern – sie musste sie extra gekauft oder geliehen haben – die gemeinsame Wohnung verließ. Die wesentlichen Details hatte sie ihm kühl mitgeteilt: dass sie darauf verzichte, mit ihm nach Königswinter zu ziehen, aber er werde sicher bald eine neue Mitbewohnerin finden. Dass er sie nicht anrufen solle. Dass sie den Verlobungsring behalten werde.
Er war nicht so blöd gewesen, zu glauben, dass die Sache mit dem Ring einen Unterschied machte und einen möglichen glücklichen Ausgang versprach. Nicoletta würde niemals ein Schmuckstück freiwillig herausrücken. In Bezug auf Schmuck und Schuhe war sie ihm immer gierig erschienen wie ein Kind.
Von der Hochzeit war keine Rede mehr gewesen, doch die zahllosen Anrufe ihrer italienischen Sippe waren schlagartig verebbt, dafür hatten seine Freunde und Bekannten fassungslos angerufen, um sich zu vergewissern, ob die Hochzeit tatsächlich … Ja.
Nicoletta wusste nicht, was er wusste. Dass es nämlich tatsächlich nicht so gewesen war, wie es ausgesehen hatte. Und Jan fragte sich, ob es vielleicht besser so war. Denn was hätte die Wahrheit ihr gebracht? Bestenfalls hätte sie ihn verstanden und damit auf das entlastende Privileg verzichten müssen, ihn vor aller Welt einen Bastard zu schimpfen, den los zu sein sie froh sein konnte.
Außerdem hatte sie Zuhörer. Sie hatte Menschen, die sie trösteten. Sie befand sich in einer Situation, auf die die Welt gut eingerichtet war. Es gab für ihr Problem sogar regelmäßig Dossiers in den zahllosen Magazinen, die sie abonniert hatte: über Männer, die fremdgingen. Über Beziehungen, die zerbrachen. Über den neu errungenen Singlestatus und wie man sich diesen versüßte.
Nicoletta war nicht allein, und sie wusste, was sie zu tun hatte. Er aber hatte keinen Menschen, der ihm helfen konnte. Und es gab, soweit er wusste, auch keine Hilfe für das, woran er litt.
Es wäre interessant zu wissen, wie sich sein Problem in Elenas vereinfachtem Weltbild machen würde.
Frauen, dachte Jan hilflos. Und Männer. Immer dasselbe Durcheinander.
»So viel also zur Leiche«, unterbrach Elenas Stimme seine Gedanken. Offenbar redete sie schon eine ganze Weile. »Mehr haben wir nicht. Es gibt praktisch keine Anwohner, die Blick in das Tal haben. Der eine Weg aus dem Tal führt zur Bundesstraße.« Sie griff hinter ihren Kopf, drehte ihre Pferdehaare zu einem Strang und steckte ihn unter ihren Pullover, während sie aufmerksam in ihre Notizen sah. »Ein verlassenes Fahrzeug haben wir nicht gefunden, und wegen des starken Regens kann man auch nicht erkennen, ob dort eins gestanden hat. Der andere Weg führt den Drachenfels hinauf und über ein Obstwiesental zu einem Abrisshaus. Ungefähr fünfhundert Meter daneben verläuft der Eselsweg, also der reguläre Fußweg zum Drachenfels, den die Spaziergänger und Esel benutzen. Dort steht das sogenannte Honighäuschen des lokalen Imkers, er verkauft alle möglichen Honigprodukte, Bonbons, Seife, was Touristen eben so kaufen. Wuttke hat ihn befragt, ihm ist jedoch nichts aufgefallen, es war ein normaler Besuchstag, im November ist ohnehin nicht viel los. Wir können nur hoffen, dass sich einige der Touristen melden, sobald sie von dem Leichenfund hören. Die Tageszeitungen haben heute darüber berichtet, und es gingen schon einige Anrufe ein, aber noch nichts Wichtiges.«
»Gut, hoffen wir also«, sagte Lohse. »Was haben wir noch?«
»Die Vermisstensache Sippmeyer.«
»Ah ja.«
Elena nickte Jan auffordernd zu, und er übernahm. »Bis jetzt gibt es keine Hinweise auf einen Zusammenhang außer den Übereinstimmungen von Alter und Aussehen der beiden Frauen. Der Ehemann der Vermissten hat gelogen, was seinen Aufenthalt vorletzte Nacht anbelangt. Zwar haben wir die Aussagen der Kneipenbesucher nicht im Detail verglichen, aber es geht klar daraus hervor, dass Sippmeyer nicht im Tubak war.«
»Gibt es eine Lösegeldforderung?« Lohse starrte so angestrengt aus dem Fenster, als gäbe ihm von dort jemand Zeichen.
Reimann schaltete sich ein. »Nein, und das würde mich auch sehr wundern. Die Spuren im Schlafzimmer sind widersprüchlich. Es gibt zwar deutliche Kampfspuren, und da ist das offene Fenster, aber es fehlen Spuren an der Hauswand. Keine Zeichen von Abrieb, Faserspuren, was auch immer. Niemand ist durch dieses Fenster gestiegen, auf jeden Fall nicht in den letzten Monaten,
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