Nibelungenmord
Jungen, nun ja …« Sie hüstelte. »Dabei bin ich sicher, auch eine alleinstehende Mutter kann das schaffen. Aber sie ist ständig in der Weltgeschichte herumgereist, und das arme Kind …« Sie verstummte, ergriff Cecilias Hand und sah sie an. »Sie dürfen es mir nicht übelnehmen, dass ich so offenherzig spreche. Ich bin natürlich glücklich, dass mein Enkel jetzt hier arbeitet, aber ich sorge mich einfach, was die Leute von mir denken, wenn er umhergeht und auf ihren Gefühlen herumtrampelt.«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Niemand wird Sie für das Verhalten Ihres Enkels verantwortlich machen, er ist schließlich ein erwachsener Mann.«
»Aber natürlich bin ich dafür mitverantwortlich! Seine Mutter war immer unterwegs, manchmal klingelte es an der Tür, und sie stand da mit dem Kleinen und einem Koffer und sagte, Mutter, nimm du ihn, ich muss weg. Ich habe oft auf ihn aufgepasst, also habe ich an seiner Erziehung mitgewirkt.« Es tat überraschend gut, die Dinge einmal mit so starken Worten auszukleiden. Ganz so war es selbstverständlich nicht gewesen, aber beinahe, und sie hatte noch niemals darüber gesprochen.
Cecilia nickte bedächtig. »Kinder, ja. Sie sind immer die Opfer, wenn die Erwachsenen meinen, ihren eigenen Weg gehen zu müssen.«
Es entstand eine Pause, und Edith hütete sich, diese zu füllen. Sie nahm noch einen Schluck von dem Kaffee, der ausgezeichnet schmeckte, und wartete.
»Unser Junge hier tut mir auch oft leid.« Cecilia wies mit den Augen zur Küchentür, und Edith nickte verstehend. »Es ist ungeheuerlich, was manche Eltern sich herausnehmen«, sagte sie mit gedämpfter Stimme.
»Und er ist so ein netter Junge. Früher war er so offen und fröhlich, und dazu gut in der Schule.« Cecilias Stimme klang traurig.
»Eltern können vieles verderben.«
»Das mit seinen Eltern hat ihn kaputtgemacht. Natürlich lässt er sich nicht anmerken, wie er leidet, er tut erwachsen, aber … Können Sie sich vorstellen, dass er im vergangenen Jahr kein einziges Wort mit seinen Eltern gesprochen hat?«
»Kein einziges?«
»Zumindest nur das Allernötigste. Er isst nicht mehr mit am Tisch, sondern nimmt alles mit in sein Zimmer an den Computer, und er kommt und geht, wie es ihm gefällt.«
»Und das lassen die Eltern zu?« Edith klang ehrlich schockiert.
»Was sollen sie machen? Der Vater ist zerfressen von schlechtem Gewissen, er lässt dem Jungen alles durchgehen. Ich will Ihnen was sagen …« Cecilia warf erneut einen Blick zur Küchentür. »Wäre der Junge nicht, er wäre längst zu der anderen Frau gegangen. Das ist meine Meinung.«
»Vielleicht wäre das besser«, sagte Edith vorsichtig.
»Vielleicht, ja.«
»Möglicherweise ist die andere gebunden, und deswegen kann er nicht zu ihr.«
»O nein!« Cecilia stellte ihre Tasse ab. »Das ist sie ganz sicher nicht! Es ist diese Künstlerin, Romina Schleheck. Sie hat einen kleinen Laden im Zentrum. Verkauft allen möglichen Ramsch an Touristen.«
Edith nickte. Jetzt verstand sie die offenbar falsche Aussage der Haushälterin. Sie hatte die Polizei dezent in die richtige Richtung weisen wollen, als sie Romina belastet hatte. Direkt hätte sie das Liebesleben ihres Arbeitgebers nicht ansprechen wollen, aber so konnte sie die Interessen von Frau Sippmeyer vertreten, ohne dabei allzu indiskret zu werden.
»So ist das jedenfalls kein Zustand! Können Sie sich vorstellen, was sich hier für Szenen abgespielen? Er kommt morgens von der anderen, frisch geduscht, und setzt sich an den Küchentisch. Und die Frau sagt: O wie lieb, dass du Brötchen mitgebracht hast.«
»Die arme Frau!« Edith war entsetzt. Und bei sich dachte sie, dass es bei so einer Konstellation beinahe ein Wunder war, dass nicht schon viel früher etwas Furchtbares passiert war. Eigentlich erstaunlich, dass niemand auf die Idee gekommen war, den Ehemann zu beseitigen. Liebende Frauen!, dachte sie und schüttelte innerlich den Kopf über so viel Unverstand.
»Das will ich Ihnen sagen! Die hat Sachen durchgemacht in den letzten Jahren … Und immer bleibt sie freundlich, schluckt ihre Pillen und lächelt. Und er kann sich jeden Tag aufs Neue überlegen, ob er zu der einen oder zu der anderen möchte.«
»Erstaunlich«, sagte Edith.
»Ich bitte Sie, welche Frau lässt das mit sich machen?«
Edith zögerte mit ihrer Antwort. »Meinen Sie jetzt die Ehefrau oder die Geliebte?«
»Das ist der Punkt!«, rief Cecilia aus, und Edith sah unwillkürlich zur Tür, aus
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