Nibelungenmord
hatte.
Das war der einzige Grund, warum sie eingekehrt war. Sie war mit schleppenden Schritten die Hauptstraße entlanggegangen und hatte sich gefragt, ob sie nicht doch im Krankenhaus hätte bleiben sollen. In dem Moment hatte sie durch das Fenster Herta vor einem Stück Torte gesehen. Und da war ihr die Idee mit dem Sherry gekommen. Um zu feiern, dass sie dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen war.
»Zwei Sherry«, bestätigte Herta, da Edith nichts sagte, und sah zufrieden zu, wie die Frau die beiden Gläser vor ihnen abstellte und sie auf dem papiernen Spitzendeckchen zurechtrückte.
»Ich danke dir für die Einladung«, sagte Herta etwas geziert und stieß heftiger an, als es sich eigentlich ziemte. Dann nahm sie einen Schluck und nickte anerkennend. »Herrlich! Das sollten wir viel öfter machen!«
»Da hast du recht«, sagte Edith. Das hatte sie wirklich. Das Leben war viel zu kurz. Wer weiß, ob sie nach dem nächsten Sturz so einfach wieder aufstehen und laufen konnte? Die Ärzte hatten ihr ins Gewissen geredet. Unverantwortlich sei es, in ihrem Alter noch allein zu wohnen. Was für ein Glück sie gehabt habe, dass man sie so schnell gefunden habe. Dass es ein Wunder sei, dass sie nichts gebrochen habe, und dass die meisten alten Leute dieses Glück nicht hatten und dann monatelang im Krankenhaus vor sich hin vegetierten und sich nie mehr erholten, weil die Kraft zum Muskelaufbau fehlte. Die Antwort war für die Ärzte einfach gewesen: Altenheim. Ein rundum weich gepolstertes Altenheim, wo man ihr nur wenige Schritte vom Bett zum Tisch und zurück gestatten und sie mit lauter langweiligen alten Leuten einsperren würde.
Niemals, dachte Edith und trank noch einen Schluck. Das Glas war leer.
»Ein bisschen blass bist du aber noch. Dass sie dich überhaupt entlassen haben«, sagte Herta kopfschüttelnd.
»Auf eigene Gefahr«, sagte Edith und ließ diese Worte sich in ihrem Inneren entfalten wie der Sherry, der in ihrem Magen erst eine angenehme Wärme und jetzt ein wunderbares Wohlbehagen verströmte. »Ich habe gesagt, ist nicht das ganze Leben eine einzige Gefahr, Herr Doktor?«
Zufrieden lehnte sie sich zurück.
Herta nickte beifällig. Dann warf sie erneut einen Blick aus dem Fenster auf das Plakat. »Vermisst!« stand darauf. Die ebenmäßige Schönheit von Margit Sippmeyers Gesicht strahlte ihnen entgegen.
»Sie sieht wirklich gut aus auf dem Bild«, sagte Herta beifällig.
Edith runzelte die Stirn. »Nur auf dem Bild?«
»Besser als in echt. Sie hatte so etwas Gehetztes, etwas …« Herta brach ab. Es war Trauer. Margits Schönheit war immer durch einen Schleier von Trauer und Verwirrtheit getrübt gewesen. »Ich glaube nicht, dass sie glücklich war.«
»Kein Wunder, bei dem Mann.«
»Noch zwei Sherry?«, fragte die Bedienung und lächelte, als die beiden alten Damen erschreckt auffuhren, weil sie sich ertappt fühlten.
»Nicht um die Zeit«, protestierte Edith entrüstet und warf Herta einen bedauernden Blick zu. Zu gern hätte sie das interessante Gespräch weitergeführt, aber die Bedienung machte keine Anstalten, hinter ihre Kuchentheke zurückzukehren. Um diese Zeit war es leer im Café, und man sah ihr an, dass sie sich nach einem kleinen Schwatz sehnte.
»Die Polizei ist in dieser furchtbaren Mordsache noch nicht weitergekommen«, sagte sie mit gedämpfter Stimme und schob den Topf mit den blauen Plastikblumen auf der Mitte des Tischs zurecht. »Dabei gibt es Zeugenaussagen wie Sand am Meer!«
»Tatsächlich?« Edith reckte den Hals.
»Mindestens drei Stammkunden waren an dem Tag spazieren und haben der Polizei alles gesagt, was sie wissen.«
»Vielleicht haben sie nichts Wichtiges gesehen?«
»Wahrscheinlich.« Der gedehnte Tonfall der Kellnerin ließ durchklingen, dass die Unergiebigkeit der Zeugenaussagen in ihren Augen der Polizei zuzuschreiben war. »Und dann ist ja auch die Frau Sippmeyer noch nicht wieder aufgetaucht. Überall hängen diese Suchplakate, aber niemand hat sie gesehen. Ich glaube, sie suchen jetzt ihre Leiche. Heute früh sind sie mit Hunden den Rhein abgegangen!«
»Das ist furchtbar«, sagte Herta. »Der arme Ehemann!« Und sie warf Edith einen vielsagenden Blick zu.
»Ja«, sagte die Bedienung versonnen. »Der arme Ehemann.« Über ihr Gesicht glitt ein Ausdruck unverkennbarer Verzückung.
Und als die Türglocke sie zurück an die Kuchentheke rief, beugte Herta sich vor und klopfte auf den Tisch. »Selbst die!«, sagte sie empört. »Das
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