Nibelungenmord
verspürte einen Anflug von Neid.
Er dachte an Valerie Koller, die nach dem Unterricht zu ihrer kranken Schwiegermutter gehetzt und irgendwann auf dem Weg dahin ermordet worden war.
Wo sollten die Leute bloß alle hin mit ihren Sorgen um pflegebedürftige Eltern und Großeltern, um Menschen, die älter wurden und um die man sich kümmern musste? Für junge Eltern gab es Mutterschutz, Elternurlaub, Elternteilzeit, dachte er und warf einen letzten Blick auf den Kindergarten, ehe er zu seinem Auto trat und es aufschloss.
Und während er einstieg, schoss ihm durch den Kopf, dass Arbeitnehmern für Beerdigungen immerhin ein freier Tag zustand. Dafür dann doch.
Ob Koller sich vielleicht die Beerdigung seiner Frau hätte ersparen können, wenn er einen freien Tag genommen hätte und selbst zu seiner Mutter gefahren wäre?
Ich muss mich zusammenreißen, dachte Jan und vergrub die Nase in den cremeweißen Rosenblüten. Es waren die letzten Freilandrosen, wie ihm die Blumenverkäuferin versichert hatte. Er hatte es nicht fertiggebracht, sie der Schwester zu geben, damit sie sie in eine der scheußlichen Keramikvasen stellte und dann im Schwesternzimmer vergaß. Er würde sie Edith selbst bringen. Später. Und vielleicht würde sie dann weiter von ihrem Besuch bei den Sippmeyers berichten, und sie würden scherzen und lachen, und ihm würde leichter werden.
Die Rosen. Vorhin im Laden hatten sie einen himmlisch süß-würzigen Rosenduft verströmt, doch das Krankenhaus hatte ihn absorbiert.
Jetzt rochen sie nach nichts als nach Desinfektionsmitteln und Tod.
*
Sippmeyers Büro war im untersten Stockwerk eines rosafarbenen Altbaus untergebracht. Die zweiflüglige Terrassentür bot einen Blick auf den Drachenfels. Der Berg und seine Ruine waren heute grau verhangen. Schräg unter den grauen Mauern prunkte Schloss Drachenburg. Jetzt, wo die Renovierungsarbeiten abgeschlossen waren, zeigte es seine volle märchenhafte Schönheit.
Im Büro war es warm. Die zurückhaltende Einrichtung, ja sogar die Topfpflanzen verrieten dezente Eleganz, trotzdem bot die Sekretärin Elena noch nicht einmal ein Glas Wasser an, bevor sie sie ins Zimmer des Chefs geleitete.
Der Notar hatte sich verändert, seit Elena ihn als zitterndes Häufchen Elend in der Rechtsmedizin gesehen hatte. Es war nicht sein Aussehen. Immer noch trug er sein Haar etwas zu lang, und immer noch saß sein Anzug tadellos. Auch die goldenen Haare auf den gebräunten Unterarmen waren dieselben, und Elena schalt sich innerlich für ihre unsachliche Wahrnehmung.
Etwas in seiner Haltung hatte sich verändert. Er schien wacher, direkter, als wüsste er etwas, das ihm lange Zeit verborgen geblieben war. Und offenbar traf das zu, denn plötzlich kamen die vorher so mühsam zurückgehaltenen Antworten wie aus der Pistole geschossen. Zum Beispiel auf die Fragen nach Romina Schleheck. Er lächelte ein eigenartiges Lächeln, als Elena ihn auf die Malerin ansprach.
»Warum fragen Sie mich, wenn Sie es ohnehin wissen? Frau Schleheck und ich haben ein Liebesverhältnis, schon seit langem. Sind Sie deswegen gekommen?«
»Unter anderem«, sagte Elena und lehnte sich zurück. »Wenn ich mich richtig erinnere, sagten Sie mir bei unserer letzten Begegnung, dass Sie keine Frau Schleheck kennen.«
Sippmeyer zuckte die Achseln auf eine Art, die irgendwie herausfordernd wirkte. Es musste an den breiten Schultern liegen. Oder daran, dass ihm der Anzug so gut stand? »Tut mir leid.« Es klang sogar aufrichtig.
»Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«
»Ich habe keine Ahnung. Ich war schockiert über das Verschwinden meiner Frau, und ich habe nicht richtig nachgedacht.«
»Eigentlich muss man bei derart einfachen Fragen nicht sehr viel nachdenken, Herr Sippmeyer.«
Sippmeyer seufzte, und sein Lächeln verschwand. Er nahm einen Kugelschreiber auf, drehte ihn in der Hand, als wolle er ihn befragen, und ließ die Mine klicken. Klick. Klack.
»Ich bin nicht stolz darauf, das können Sie mir glauben. Mein Verhältnis zu Romina Schleheck dauert jetzt über vier Jahre, und in der Zeit sind mir die falschen Antworten wohl in Fleisch und Blut übergegangen.«
»Die Lügen, meinen Sie.«
»Wenn Sie so wollen, die Lügen, ja. Ich mag das Wort Lüge nicht, es klingt so negativ.«
»Ach«, sagte Elena und konnte den Sarkasmus in ihrer Stimme kaum verbergen.
Sippmeyer lehnte sich zurück und betrachtete entschlossen den Kugelschreiber. Klick. Klack. Man sah ihm an, dass es ihn drängte,
Weitere Kostenlose Bücher