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Nibelungenmord

Nibelungenmord

Titel: Nibelungenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merchant
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sie seine ständige Angst vor der Meinung der Leute. Und genau diese Angst schien er plötzlich verloren zu haben.
    Warum?, dachte sie. Es irritierte sie, dass er nicht an die Nachbarn dachte oder an seine Haushälterin. Oder an Sven. Was sollten all diese Leute denken, wenn er zwei Tage nach dem Verschwinden seiner Frau mit ihr hier vorfuhr? Er, der immer peinlich genau darauf geachtet hatte, was die Nachbarn denken könnten? Er, der ihr nicht einmal das Alibi gegeben hatte, obwohl sie die Nacht miteinander verbracht hatten? Obwohl die Alibis von Bettgefährten nicht viel wert sein konnten. Sie hatte geschlafen. Er hatte geschlafen. Was, wenn einer von ihnen zwischendurch aufgestanden war? Wer wusste schon mit Sicherheit, was der Partner auf der anderen Seite des Bettes zwischen Gute-Nacht-Sagen und Aufstehen getan hatte?
    Michael lief überflüssigerweise um das Auto herum, um ihr die Tür aufzuhalten, und sie fühlte den Kies unter ihren Schuhen knirschen wie letzte Nacht, aber das wusste er natürlich nicht.
    »Komm doch herein«, sagte Michael, und sie spürte den leichten, aber unnachgiebigen Druck seiner Hand auf ihrem Rücken, als er sie durch die Haustür in die Eingangshalle schob, in der sie letzte Nacht beinahe erwischt worden wäre.
    »Cecilia?«, rief er laut, erst in Richtung Küche, dann nach oben, wo sich die Schlafzimmer befanden.
    Es kam keine Antwort, und die Erleichterung durchfuhr sie wie ein Schauer, dass ihr diese peinliche Begegnung vorerst erspart blieb. Und der anderen auch.
    Es war alles falsch. Es war unanständig von ihm, sie hier wie die zukünftige Hausherrin hineinzuführen. Es war falsch, dass sie das mit sich machen ließ. Richtig wäre gewesen, sie hätte vorhin beim Essen gesagt, was gesagt werden musste. Sie hatte die Worte einstudiert.
    Es ist aus. Es ist vorbei. Wir werden uns nicht mehr wiedersehen. Ich liebe dich nicht mehr. Ich habe dich nie geliebt. Ich habe jemand anderen in dir geliebt, jemanden, der du nie warst. Jemanden, den ich für meine Kunst brauchte, den ich malen, auspressen und auf die Leinwand nageln konnte. Das habe ich mit dir getan, und jetzt ist es vorbei, ich brauche dich nicht mehr. Es tut mir leid.
    Das waren die Worte, die sie wie ein Mantra wiederholt hatte, während sie auf ihn wartete, ihn, der auf dem Weg zu ihrem letzten gemeinsamen Essen war. Pastinaken mit Schupfnudeln. Wie damals. Ein Abschiedsessen.
    Sie hatte die Worte einfach nicht über die Lippen gebracht, war zerflossen vor schlechtem Gewissen. Sie hatte das erste Mal begriffen, was es bedeutete, wenn sie wirklich konsequent war. Wenn sie Frau und Künstlerin trennte, wie sie es vorgehabt hatte. Dass sie dann ein Unmensch war, ein Vampir. Dass sie die Menschen aussaugte, sich nahm, was die Leinwand forderte, und den Rest wegwarf. Nur so ging es. Nur so konnte sie sich schützen vor Komplikationen und Katastrophen wie der, die sie damals ihre Karriere gekostet hatte.
    Und das war ab sofort ihr Weg. Das war der Preis für ihr Comeback.
    Das Schuldgefühl hatte sie mürbe gemacht, und so hatte sie Michaels vorsichtig vorgetragener Bitte zugehört, bot das Gespräch doch Gelegenheit, den endgültigen Schluss noch ein wenig hinauszuschieben. Noch eine kleine Weile Mensch und Frau zu bleiben und nicht der Vampir, der alles um sich herum zerstörte.
    »Er ist völlig durcheinander«, hatte Michael gesagt. »Ich befürchte sogar, dass er Drogen nimmt. Er spricht nicht über seine Mutter, sagt nichts über die Gespräche mit der Polizei, aber ich spüre, dass er Angst hat.«
    Michael glaubte schon lange zu spüren, was sein Sohn fühlte. Seit dieser nicht mehr mit ihm sprach, träumte Michael sich in eine wirre Kommunikation mit Sven, in eine Verbindung, die ohne Worte funktionierte und ihm tagtäglich vermittelte, was dieser empfand.
    »Er hat jetzt doch nur noch mich, Romina. Ich muss ihm helfen, aber wie soll ich das, wenn ich keinen Zugang finde?«
    Es war immerhin das erste Mal, dass Michael eingestand, dass er keinen Zugang zu Sven hatte.
    Du hattest wahrscheinlich nie einen, dachte Romina, aber sie sagte: »Das tut mir so leid. Es muss furchtbar für ihn sein, dass seine Mutter verschwunden ist und er keine Ahnung hat, was mit ihr geschehen ist.«
    Michael nickte langsam, als sei in ihrer Antwort etwas enthalten, auf das er gewartet habe. »Sprich du mit ihm. Bitte. Ich flehe dich an.«
    Ein unerlaubtes Lachen stieg Romina in der Kehle auf, und mit großer Anstrengung zwang sie es herunter.

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