Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nibelungenmord

Nibelungenmord

Titel: Nibelungenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merchant
Vom Netzwerk:
etwas über seine Mutter?«
    »Offenbar müssen sie öfter mal spontan zu ihr fahren, wenn etwas ist. Finde ich nicht ganz logisch. Warum ist sie nicht in einem Altenheim, wenn sie so alt ist?«
    »Vielleicht will sie nicht.«
    »Vielleicht muss sie?«
    »Wenn sie aber nicht will.« Jan dachte an den Anruf des Krankenhauses.
    Elena zuckte ungeduldig die Achseln. »Wenn sie nun mal nicht mehr alleine kann?«
    »Ja, aber wer entscheidet das?« Jan sah den Protest in Elenas energischem Gesicht und wusste, dass er dieses Gespräch beenden wollte. Für Elena war immer alles klar und einfach. Sie würde nach einem einzigen Blick auf Kollers Mutter oder Edith die Entscheidung treffen, ob sie ins Altenheim gehörten oder zu Hause bleiben durften, und niemals würde sie die Richtigkeit ihres Urteils anzweifeln.
    »Ich rufe sie mal an«, sagte er. Auf seinem Schreibtisch herrschte nicht die gewohnte Ordnung, aber dennoch fand er den Bericht über die Befragung. Er überflog ihn noch einmal, stellte fest, dass alles sich so verhielt, wie Elena gesagt hatte, und ließ sich von Nicole die Telefonnummer von Kollers Mutter raussuchen.
    Während er auf das Freizeichen wartete, mied er Elenas Blick. Sie hatte gemerkt, dass ihn das Thema beschäftigte. Sie merkte immer alles.
    Es klingelte lang. Im Geiste sah er eine alte Frau, die unter einer Wolldecke auf dem Sofa lag, ungläubig die Ohren spitzen, sich langsam aufrichten, in Zeitlupe erst den einen, dann den anderen Pantoffel suchen.
    Normalerweise hätte er längst aufgelegt, aber bei dem Gedanken an die Bedächtigkeit von Ediths Bewegungen zwang er sich zum Abwarten.
    Er dachte immer noch an Edith, als sich der AB einschaltete. Nach dem achten Klingeln, dachte er, während er mit einem Ohr dem Spruch lauschte. Ein Anrufbeantworter, der sich nach dem achten Klingeln einschaltete, so etwas gab es vermutlich nur bei alten Leuten, um ihnen ausreichend Zeit zu geben, ans Telefon zu gehen. Er überlegte, ob auch Edith einen AB besaß. Ob sich bei seinen Anrufen nach dem achten Klingeln ein AB eingeschaltet hätte, um ihr die Grüße ihres Enkels zu übermitteln? Er hatte immer nach dem vierten oder fünften Klingeln aufgelegt, in der Gewissheit, sie sei nicht da. Seit er bei ihr wohnte, ging sie immer sehr schnell an den Apparat, wahrscheinlich wartete sie auf seine Anrufe.
    Er hinterließ Hiltrud Koller eine Nachricht, in der er um Rückruf bat und auf die laufenden Ermittlungen verwies. Die Nummer sprach er langsam und deutlich, zur Sicherheit wiederholte er sie noch einmal.
    Dann starrte er durch das Fenster in den kalten Himmel und dachte nach. Sollte eine Frau mit Oberschenkelhalsbruch nicht zu Hause sein, das Telefon in greifbarer Nähe? Auf jeden Fall sollte sie das. Sie musste immer ein Telefon griffbereit haben, wer weiß, was ihr passieren konnte? Alte Knochen waren zerbrechlich. Das Leben war so fragil. Und wenn es vorbei war, war da nur eine weitere Leiche, eine unter vielen.
    Er wischte sich die Stirn. Dann fuhr er seinen Rechner herunter, stand auf und nahm seine Jacke.
    »Und?«, fragte Elena, der das nicht entging. »Hast du sie erreicht?«
    »Klär du das bitte«, sagte Jan und schlang sich den Schal um den Hals. »Die Nummer steht hier auf dem Vermerk.«
    Elena hob die Augenbrauen, verkniff sich jedoch eine Nachfrage. »Wohin geht es?« Sie stand auf und ballerte aus voller Höhe vorwurfsvolle Blicke auf ihn.
    »Tatort besichtigen«, sagte er. »Ich bin sicher, wir haben dort etwas übersehen.«
    Und er floh, ehe sie ihn aufhalten konnte.
    *
    Auch wenn plötzlich der Himmel einen freundlichen Teppich aus zuckrigem Blau ausrollte, ganz so, als wolle er sie damit willkommen heißen, war es für Romina der falsche Tag, um Michaels Sohn kennenzulernen. Das wusste sie in dem Moment, als die dichten Hecken, die das Grundstück umschlossen, vor dem Auto zurückwichen und den Blick auf die gewaltige graue Villa freigaben.
    Zum ersten Mal saß sie neben Michael auf dem Beifahrersitz.
    Er war ruhig und konzentriert gefahren, anscheinend wusste er genau, was er tat. Von Zeit zu Zeit hatte er den Blick von der Fahrbahn genommen und ihr zugelächelt, und bei jedem dieser flüchtigen Blickkontakte war ihr im Hals eng geworden bei dem Gedanken, was sie ihm antun würde. Dass er sich niemals von seiner Familie trennen würde, war ihr immer als ein wesentlicher Bestandteil von Michaels Persönlichkeit erschienen, als etwas, das sie verstand und akzeptierte. Weniger akzeptieren konnte

Weitere Kostenlose Bücher