Nibelungenmord
ihre weißen Zähne. Heute trug sie ein flaschengrünes Kostüm, die Perlenkette war dieselbe. »Vielleicht erinnern Sie sich an mich.«
»Raus«, sagte Edith und versuchte, die Tür zu schließen, doch die Frau drückte dagegen.
»Ich bin noch einmal hier auf Bitten Ihres Enkels«, sagte die Frau und hörte nicht damit auf, ihre Zähne zu zeigen.
»Das glaube ich kaum«, sagte Edith so würdevoll wie möglich und überlegte, wie sie die Tür schließen konnte, wenn diese Frau ihren Fuß darin hatte. Zu schade, dass sie Jans Dienstwaffe nicht zur Hand hatte. Sie war sicher, damit könnte sie die Frau auch ein zweites Mal in die Flucht schlagen.
»Ihr Enkel, Jan Seidel, rief mich heute Mittag an und sagte, dass Sie umgehend betreut werden müssen. Ich bedaure natürlich sehr, dass unser erstes Zusammentreffen vor einigen Tagen so, nun, unerfreulich verlaufen ist. Aber ich bin sicher, wir werden gute Freunde werden.« Mit einem Ruck drückte sie die Tür auf und stand plötzlich vor Edith im dämmrigen Flur.
»Das würde mein Enkel niemals tun«, sagte Edith und griff hilfesuchend hinter sich.
»Nein?«, fragte die Frau und lächelte. »Sind Sie sicher?«
*
»Und Süßstoff und ein Glas Leitungswasser, bitte.«
»Sehr gerne.«
»Danke.«
Sie war so wie immer.
Das war es, was Jan am meisten verwunderte, während er Nicoletta dabei zusah, wie sie zielsicher die Speisekarte durcharbeitete und nebenbei dem Kellner ihre Getränkewünsche mitteilte. Wie immer einen Espresso vor und nicht nach dem Essen.
Vorhin, als sich die Tür geöffnet und den Blick auf Nicoletta freigegeben hatte, war ihm vor Aufregung fast schlecht gewesen. Und dann hatte er erkannt, dass sie aussah wie immer. Er hatte sie aufgelöst erwartet, geknickt, niedergeschlagen, vom Schicksal gebeutelt, immerhin war wenige Tage vor der Hochzeit ihr Traum vom gemeinsamen Glück zerplatzt. Irgendwie hätte man ihr das ansehen müssen, aber so war es nicht. Ein gegürteter, topmodischer Trenchcoat, den er noch nie an ihr gesehen hatte, hohe Absätze, die unvermeidliche Sonnenbrille im glänzenden Haar. Wie immer waren ihre Lippen ungeschminkt, weil sie sich einbildete, Lippenstift würde ihr darüber schwebendes Muttermal zu sehr betonen.
»Ich glaube, ich nehme den Salat mit Putenbruststreifen«, sagte sie mit gerunzelter Stirn. »Und du?«
»Dasselbe.« Sie nahm immer Salat mit Putenbruststreifen. Oder Salat mit Käse. Abends keine Kohlenhydrate, das war ihr Geheimnis.
Mit gebieterischer Handbewegung winkte sie den Kellner heran, gab die Bestellung auf und orderte, ohne Jan gefragt zu haben, eine Flasche Merlot und zwei Gläser.
»Was ist los? Frierst du?«, fragte sie dann und drapierte mit ihm schmerzlich vertrauten Bewegungen Handtasche, Sonnenbrille und Handy um sich herum.
»Ein bisschen.« Die Kälte aus der Drachenhöhle war ihm gefolgt, anders konnte er es sich nicht erklären. Trotz seines Pullovers und der Klimaanlage, die warme Luft verströmte, fror er immer noch. Er bemühte sich, die Schultern zu entspannen und sich die Kälte zumindest nicht ansehen zu lassen.
Nicoletta musterte ihn aufmerksam. »Jetzt sag schon. Was ist denn mit deiner Großmutter?«
Er berichtete mit leiser Stimme von der Sache mit Ediths Zusammenbruch und der Prognose der Ärzte, von seiner Mutter, die er nicht erreichen konnte, und von Clara, die er nicht belasten wollte.
An dieser Stelle unterbrach ihn Nicoletta mit einem Lächeln, das ihr Muttermal in die Höhe hüpfen ließ. »Nichts, was du sagst, könnte Clara belasten, Jan. Wenn du willst, ruf sie an. Ich habe vor einigen Tagen noch mit ihr gesprochen, ich bin mir ganz sicher, dass du dir um sie keine Sorgen machen musst.«
Sie hat geweint, dachte Jan. Das war es, was Clara über ihr Gespräch mit Nicoletta gesagt hatte, dass Nicoletta geweint hatte. Er wünschte, er könnte irgendeinen Rest dieser Tränen sehen. Sein Blick fiel auf ihre Hand. Der Ring. Sie trug ihn nicht. Er seinen schon. Unwillkürlich bewegte er den Finger. »Es geht nicht nur um Clara. Ich will das gern allein lösen.«
»Was willst du allein lösen?«
»Diese Verantwortung für Edith. Clara ist weit weg, und außerdem bin ich es, der im Moment bei ihr wohnt. Darum kann ich die Lage am besten einschätzen.«
Nicoletta nahm einen Schluck von ihrem Merlot. »Es ist mir neu, dass du Verantwortung allein tragen willst, Jan.« Es klang nicht vorwurfsvoll, sondern sachlich, eine Feststellung.
»Kann schon sein. Aber nur, weil ich
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