Nibelungenmord
Nicoletta hatte. Siebzehn Jahre jung, tödlich verunglückt unter zunächst ungeklärten Umständen. Sie hatte ihn an die schlafende Nicoletta erinnert. Und beim nächsten Mal, als er Nicoletta betrachtet hatte, schob sich unaufhaltsam das Bild des toten Mädchens zwischen ihn und die Schlafende. Eine Leiche, in seinem Bett! Mit hämmerndem Herzen war er hochgeschreckt und aus dem Zimmer geflohen, um etwas zu trinken. Als er wiederkam, war die Leiche weg. Da lag nur noch Nicoletta und schlief, aber jetzt mochte er sie nicht mehr ansehen, ihr tiefer Schlaf kam ihm wie etwas Monströses, Unnatürliches vor.
Es wurde schlimmer. Er erklärte es sich so, dass er eine spontane Assoziation erlebt hatte, die sein Hirn daraufhin beliebig reproduzierte, so dass er sie nicht mehr löschen konnte. Wann immer er und Nicoletta im Bett aktiv wurden, erschien eine Leiche. Nein, das stimmte nicht – es passierte nur etwa jedes zweite Mal. Aber er wartete auf sie, und das führte dazu, dass er sich nicht konzentrieren konnte, und so war es einige Male zu ziemlich enttäuschenden Pannen gekommen.
Doch das war nicht alles. Als sei die Verknüpfung in seinem Hirn unauflöslich und unabänderlich, als gelte jetzt das eine für das andere, trugen die Leichen auf Frenzes Seziertisch das Gesicht von Nicoletta. Beim ersten Mal war ihm schwarz vor Augen geworden, und Frenze hatte ihn hinausführen müssen. Zum Glück war Elena nicht dabei gewesen, sie hätte sich gnadenlos über ihn lustig gemacht. Seitdem mied er Leichen, wo er nur konnte. Das war natürlich schwierig in seinem Beruf.
Es gab oft emotionale und sexuelle Probleme bei Berufsgruppen, die mit dem Tode zu tun hatten. Das hatte er recherchiert. Es half ihm, sich zumindest nicht ganz so absonderlich vorzukommen. Aber wirklich weiter brachte ihn diese Erkenntnis nicht. Was sollte er tun? Einmal hatte er den Polizeipsychologen aufgesucht, doch in letzter Sekunde hatte ihn der Mut verlassen, und er hatte ihm irgendetwas von Stress und Schlafstörungen erzählt. Plötzlich war er nicht mehr sicher gewesen, wie weit die Schweigepflicht eines Polizeiarztes ging. Gab es bei sexuellen Störungen so etwas wie Gefahr im Verzug? Was, wenn er pervers war? Und was, wenn die anderen davon erfuhren?
Er hatte also begonnen, möglichst spät am Tatort einzutreffen. Er hatte auch versucht, intimere Berührungen zu umgehen, aber da hatte er die Rechnung ohne Nicoletta gemacht. Sie nahm sich, was sie wollte, und sie schien sich nicht zu fragen, warum er immer zurückhaltender wurde. Selbstverständlich hatte er sein abnehmendes Interesse erklärt, Stress hatte herhalten müssen, Stress auf der Arbeit, Stress wegen der Hochzeit. Nicoletta hatte verständnisvoll genickt, und dann hatte sie nach ihm gegriffen, und er hatte so manches Mal gedacht, dass er einen hohen Preis zahlen musste für diese Superfrau. Nicht nur, dass er pflichtschuldigst mit ihr zwischen den Laken tobte, nein, er kämpfte dabei auch noch gegen die eigene Wut, Wut auf Nicoletta, die ihn indirekt zu diesem entwürdigenden Schauspiel zwang.
Die nahende Hochzeit hatte den Druck erhöht. Und schließlich hatte er wissen wollen, woran es lag.
Ob er diese Halluzinationen nur hatte, wenn Nicoletta neben ihm lag. Ihm war klar gewesen, dass die Hemmschwelle zum Fremdgehen nach der Hochzeit wesentlich höher liegen würde, und er hatte es schnell hinter sich bringen wollen. So war es zu jenem verhängnisvollen Zusammentreffen mit dieser Frau gekommen, das mit vielen Martinis begonnen und mit Geschrei im Schlafzimmer geendet hatte. Nicoletta war aufgetaucht, ehe er seine drängende Frage hatte beantworten können. Hatte er an Leichen denken müssen, während er diese Frau küsste und auszog, ihre Zunge im Ohr und ihre Hand auf seinem Hintern? Eigentlich hatte er nur an Nicoletta gedacht. Das war ja eigentlich kein Zeichen für eine schlimme sexuelle Perversion.
Als sein Apparat klingelte, zuckte Jan zusammen, ganz so, als habe man ihn bei verbotenen Gedanken ertappt. Dabei saß er hier auf der Arbeit, vor sich Akten und Papiere, und niemand konnte ihm ansehen, woran er dachte. Dennoch warf er einen unsicheren Blick auf den Bildschirm, um erleichtert festzustellen, dass auch dort nichts zu sehen war außer dem angefragten Verbindungsnachweis von Valerie Kollers Telefongesellschaft. Das Gespräch zur Tatzeit war offensichtlich das einzige gewesen, das Valerie und Sippmeyer im letzten Jahr geführt hatten. Sippmeyer. Sie mussten ihn
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