Niccolòs Aufstieg
hielt die Rose fest umklammert. Er stand natürlich noch auf der Straße und verbeugte sich. Danach entließ er seine Diener und ging durch die weniger belebten Straßen, unkenntlich umhüllt von seinem Kapuzenumhang. Träge kehrten seine Gedanken zu der weißen Haut und dem schwarzen Haar Muriellas zurück und zu den eindeutigen Freuden, die der Rest von ihr zu versprechen schien. Als er zu Betkines Haus kam, war er voll angestauter Energie, die ihm einige außerordentlich lustvolle Momente bescherte, aber keiner Befriedigung weichen wollte.
Er konnte nicht die ganze Nacht bleiben. Er blieb doppelt so lange wie geplant, und als er wegging, war es längst dunkel. Inzwischen hatte das Hämmern bei Lampenlicht aufgehört, und die Stimmen der Arbeiter waren verstummt. Der Marktplatz war hell erleuchtet, und an dem gelegentlichen Gemurmel war zu erkennen, wo die Stadt ihre Wächter aufgestellt hatte, die die Ansammlung aus Holz, Latten und Segeltuch schützen sollten, bis der Turniertag anbrach. Es waren noch andere Geräusche zu hören. Das Grunzen der allgegenwärtigen Schweine. Das Miauen von Katzen. Das leise Jammern eines fordernden Kleinkindes hinter einem erhellten Fenster. Aus offenen Fensterläden drangen Schnarchgeräusche. Das Plätschern von Wasser im Kanal. Das Rascheln von Abfall, den der Wind verwehte. Das hohle Dröhnen einsamer Schritte auf einer Brücke. Gedämpftes Hundegebell aus unterschiedlichen Richtungen.
Hier hatte er einst einen schönen Hund verloren. Und ein hübsches, üppiges Mädchen.
Der Wind war stärker geworden. Er trug ein seltsames Geräusch heran, über das Simon nachdachte, während er immer noch auf dem Marktplatz stand. Man konnte meinen, am Rand der Innenstadt würde eine Generalprobe für das morgige Turnier abgehalten. Eine Nachahmung en miniature des Geschreis der Zuschauer, schwach wie Meeresrauschen in einer Muschel.
Der Wind trug es wieder heran. Simon lauschte angespannt, alle Sinne geschärft. Als die Glocke hoch oben zu schlagen begann, war er einen Augenblick lang wie taub und fast von Sinnen.
Dann schlug sie wieder, es dröhnte gewaltig und der Glockenturm erzitterte. Und noch einmal. Und noch einmal.
Jemand schrie. Ein Fenster wurde von einem Licht erhellt dann ein zweites. Eine Tür schlug. Die Glocke läutete und läutete. Und über alldem erhob sich jetzt eine laute Stimme vom Glockenturm, als verkündete sie ein Gottesurteil. Ein Mann, der unentwegt in den Sprachtrichter schrie. Die große Feuerglocke. Und der Sprachtrichter nannte den Ort: die Färberei und das Haus der Familie Charetty.
Natürlich konnte früher, als alle Häuser noch aus Holz und die Dächer mit Stroh gedeckt waren, ein Feuer eine ganze Stadt innerhalb einer Stunde vernichten. Jetzt würden Backsteine, Ziegel und Schiefer dem Feuer vielleicht widerstehen, aber Treppen und Speicher waren aus Holz, ebenso wie Balken und Decken in den Häusern.
Die Stadt nahm ihre Verpflichtungen ernst. In jedem Viertel gab es ein Lagerhaus für Eimer und Feuerpatschen. Sobald sie den Sprachtrichter hörten, wußten die Leute, was sie zu tun hatten. Denn Brügge war eine Stadt, die von Tuch lebte und Tag und Nacht über die in Kellern aufgeschichteten Stoffballen wachte sowie über all die anderen Materialien, die ein Kaufmann einlagern mußte.
Der Lagerraum eines Pfandleihers war voll von Stoffen in Form verpfändeter Kleider. Und eine Färberei enthielt mehr als nur Ballen von Stoff und Bündel von Garn, nämlich Farben. Die Fäßchen mit gelbem Safrankrokus. Die Säcke mit getrockneten Galläpfeln für schönes, kostbares Schwarz und die Säcke voll Brasilholz für Karmesinrot. Die Kräuterbündel, Büschel von Färberwau, die von Balken hingen. Flache Schalen mit zu Pulver zerriebenem Waid, Schweinsblasen voll Kreuzdorn, Saftgrün und Maulbeeren. Fässer voll Beizen, Appreturen und Harzen. Schuppen voll Sodaasche und leeren Weinfässern zum Auskratzen und Verbrennen. Und überall auf dem Hof die hölzernen Küpen, Werkzeuge und Spannrahmen; die hoch aufgestapelten Karden. Und all die Leinen voll Garndocken und gefärbter Stoffbahnen, die sich vom Haus zur Färberei und weiter zum Lagerhaus spannten in einem unendlichen Muster und wie in einem rätselhaften Fadengewirr aus Wolle.
Simon von Kilmirren machte kehrt und ging dorthin, wo jetzt der ferne Lärm trotz der sich ringsum verstärkenden, durchdringenden Geräusche deutlicher wurde. Und wo man jetzt, weil sich der Himmel färbte, sehen konnte,
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