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Niceville

Niceville

Titel: Niceville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Stroud
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den Drill der Kadetten auf dem Exerzierplatz hören.
Sie nahm den Telefonhörer, hielt ihn in der Hand, hörte das Freizeichen – und
legte ihn wieder auf die Gabel.
    Sie hatte versucht, ihren Vater dazu zu bringen, etwas
über die Niceville-Vermissten zu sagen, aber das war, als wollte sie
Glühwürmchen fangen. Seit Rainey gefunden worden war, plauderte ihr Vater mit
ihr über alles Mögliche – Football, Politik, die Army, Chocolate Chip Cookies,
Beths Ehe, Nicks Kriegstrauma, warum Rotweintrinker länger leben. Über alles
außer die Niceville-Vermissten.
    Nicht einmal die Nachricht, dass Sylvia verschwunden und Rainey –
lebendig – in einer alten, verschlossenen Gruft gefunden worden war, hatte an
dieser Zurückhaltung etwas geändert. Er hatte sich alles höflich angehört, aber
nichts dazu gesagt und dem Jungen lediglich eine baldige Genesung gewünscht.
    Miles’ Selbstmord wenige Tage später schien ihn nicht zu
überraschen. In seinen Augen war die Sache damit anscheinend abgeschlossen, als
wäre eine Blutschuld bezahlt worden. Und als Kate, die ja Sylvias Cousine war,
zu Raineys Vormund bestimmt wurde, begrüßte er das sofort, wenn auch auf eine
vorsichtige, reservierte Weise. Er hatte sich auf den damals recht rätselhaften
Kommentar beschränkt, sie solle die Unterlagen über Raineys Adoption durch
Sylvia und Miles an einem sicheren Ort aufbewahren, für den Fall …
    »Für welchen Fall?«
    »Für den Fall, dass man sie … braucht.«
    »Wofür sollte man sie brauchen, Dad?«
    »Keine Ahnung. Ich will wahrscheinlich nur, dass alles seine Ordnung
hat.«
    Sie war im Wintergarten des alten Hauses, saß in dem in
Gelb und Weiß gehaltenen Raum, umgeben von üppigen Farnen und Bougainvilleen,
und sah über den alten Kiefernwald, der am Ende der Rasenfläche begann. Ein
Bach wand sich durch den Wald, und jenseits davon erhob sich ein steiler Hügel.
Der steinige Boden unter den Bäumen war mit rötlichen Kiefernnadeln bedeckt.
Selbst jetzt, im Nachmittagslicht, war in dem Wald eine tiefviolette
Dunkelheit, die finsterer und fester zu sein schien als gewöhnliche Schatten.
Wie Niceville selbst.
    Das ging nun schon viel zu lange so.
    Ihr Vater enthielt ihr offensichtlich etwas vor. Kate kannte ihn und
war sicher, dass er glaubte, er tue das nur zu ihrem Besten.
    Dillon Walker war ein wunderbarer Mann, aber er konnte auch ein
gönnerhafter, halsstarriger alter …
    Sie ließ diesen Gedanken fallen.
    Sie war eine erwachsene Frau, und nun arbeitete sich dieses Seltsame in Niceville an ihre Familie heran. Darum ging es hier. Rainey Teague lag im
Koma. Nick sah Trugbilder an einer Kellerwand. Sie selbst träumte von jungen,
grünäugigen Frauen in Sommerkleidern. Delia Cotton und Gray Haggard waren
verschwunden.
    In Niceville war irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung, und sie
war überzeugt, dass ihr Vater etwas darüber wusste. Es war an der Zeit, es aus
ihm herauszuholen.
    Sie holte tief Luft, hielt den Atem an, atmete langsam aus und
setzte sich auf.
    Griff zum Hörer.
    Wählte die Nummer.
    Es läutete zweimal, dann hörte sie den Whiskey-Bariton
ihres Vaters und seinen weichen Virginia-Akzent. Sie sah ihn an seinem
Schreibtisch im VMI , in seinem Büro mit den
wandhohen Bücherregalen, einen intelligenten, gelassenen Mann mit einem
wettergegerbten, aber fein geschnittenen Gesicht voller Furchen und Lachfalten
an den Augen.
    »Kate, du rufst früh an.«
    Normalerweise telefonierten sie abends. Es war ein Ritual, das er
ebenso beruhigend fand wie sie.
    »Störe ich dich?«
    »Ein Anruf von meiner Lieblingstochter stört mich nie.«
    »Ich dachte, Beth wäre deine Lieblingstochter.«
    »Das ist sie, wenn ich mit ihr rede. Wie geht’s dir?«
    Kate erzählte ein paar Belanglosigkeiten, doch ihr Vater kannte sie
zu gut.
    »Irgendwas stimmt nicht, Schätzchen, das höre ich doch an deiner
Stimme. Was ist los? Hat es was mit Beth zu tun?«
    »Wenn du damit meinst, ob sie noch immer mit Byron zusammen ist –
ja, ist sie. Bis auf weiteres jedenfalls.«
    »Nick und Reed sollten mal mit ihm reden.«
    »Das will Nick ja. Und Reed können wir nur mit Mühe davon abhalten,
etwas zu tun, für das sie ihn aus der State Patrol schmeißen würden. Aber Beth
muss bereit sein. Solange sie das nicht ist, hat es keinen Zweck. Und sie muss
an die Kinder denken, Dad.«
    »Das ist ja genau der Grund, warum sie diesen Kerl verlassen sollte.
Nick sieht das genauso. Das hat er mir vergangene Woche gesagt.«
    »Aber es ist

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