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Niceville

Niceville

Titel: Niceville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Stroud
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Anrichte, öffnete eine Flasche alten Cuervo, nahm
ein mit dem Emblem des Cherokee Nation Trust verziertes Kristallglas und
schenkte sich umständlich vier Fingerbreit ein.
    Sie ließen ihn eine Weile gewähren, doch als er sich in den großen
Ledersessel gesetzt hatte und gerade zu seiner vorbereiteten Rede ansetzte,
richtete der Mann namens Coker die Fernbedienung auf den großen Flachbildschirm
über dem Kamin und drückte auf eine Taste.
    Ein Bild erschien, und sie sahen Twyla und ihre Schwester Bluebell
als zehn, zwölf Jahre alte Mädchen. Sie waren nackt, standen mit verschränkten
Armen vor einer geräumigen, gekachelten Duschkabine und waren augenscheinlich
in ein ernsthaftes Gespräch unter Mädchen vertieft.
    Morgan Littlebasket schluckte hart. Er überlegte, was er sagen
könnte, und öffnete den Mund, doch Twyla ließ ihn nicht zu Wort kommen.
    »Nicht, Dad. Sag einfach nichts.«
    Littlebasket sah sie an und verzog das Gesicht zu einem Ausdruck der
Empörung.
    »Twyla, warum zeigst du mir diese scheußlichen –«
    Twyla hob abwehrend die Hand und nickte Coker zu, der die VORWÄRTS -Taste
drückte. In rascher Folge erschienen auf dem Bildschirm Fotos, die offenbar aus
einer digitalen Datei stammten. Es waren Farbfotos von den Mädchen – mal
allein, mal zu zweit, mal mit ihrer verstorbenen Mutter –, die im Badezimmer
standen und taten, was man im Badezimmer eben tat, und mit jeder Aufnahme
wurden sie älter, und ihre Formen rundeten sich, als wäre das Ganze ein
Zeitrafferfilm über zwei nackte Mädchen, die zu Frauen heranwuchsen.
    Niemand sagte etwas.
    Coker wandte den Blick nicht vom Bildschirm, während Charlies
harter, ausdrucksloser Blick unverwandt auf Morgan gerichtet war.
    Twyla hatte ihren Vater nicht aus den Augen gelassen, und dieser
starrte nach den ersten Fotos in sein Tequilaglas und sackte in sich zusammen.
Seine Hände zitterten, und sein Atem ging schwer.
    Nach einer Weile hob Twyla abermals die Hand, und Coker schaltete
den Fernseher aus.
    Twyla baute sich vor dem Sessel auf und sah hinab auf den Kopf ihres
Vaters.
    »Sieh mich an, Dad.«
    Morgan Littlebasket hob langsam den alten Büffelkopf, seine Augen
glänzten feucht, sein Mund stand kraftlos offen.
    »Sag, dass du das getan hast.«
    Er schüttelte den Kopf, seine Lippen bewegten sich, doch was er
sagte, war nur ein Flüstern.
    »Ich habe dich nicht verstanden«, sagte Twyla leise. Sie hatte den
Kopf schräggelegt, ihr Gesicht war weiß und hart wie Quarz, und ihre Augen
funkelten.
    Littlebasket machte noch einen Anlauf.
    »Deine Mutter … Lucy … sie hat mich darum gebeten. Es war nur zu
eurer Sicherheit … falls eine von euch mal ausrutscht …«
    Klatsch.
    Es geschah schnell, so schnell, dass man die Bewegung nur
verschwommen sah, aber das Geräusch des Schlages klang wie das Knallen einer
Peitsche. Twyla schwang den Arm zurück, Morgan zuckte, und dann traf ihr
Handrücken ihn hart und mit voller Wucht auf die linke Wange – ein gut
gezielter Schlag von einer sehr kräftigen, sehr wütenden jungen Frau. Aus dem
offenen Mund und über die Zähne ihres Vaters rann Blut, als er zu ihr aufsah.
    » Versuch nicht mal, diese Fotos Mom in die Schuhe zu schieben, du verdammter Feigling.
Sag, dass du es warst.«
    Stille. Der alte Mann bewegte die Lippen, seine Augen irrten im Raum
umher, als gäbe es irgendwo Rettung.
    Niemand regte sich.
    Draußen färbte sich das Sonnenlicht des Nachmittags dunkler und
erfüllte den gemütlichen, in Erdtönen gehaltenen Raum mit einem sanften,
bernsteinfarbenen Schimmer.
    »Ich … war es«, stieß er schließlich hervor.
    Er schlug die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen. Twyla
beugte sich zu ihm hinunter, riss ihm die Hände weg, sah ihm in die Augen und
sagte: »Du bist für mich tot, hast du verstanden?«
    »Twyla …«
    »Keine Tränen, keine Tränen von dir . Du
weinst nur, weil du erwischt worden bist. All die Jahre hast du Bluebell und
mir das Gefühl gegeben, Huren zu sein, nur weil wir zu Frauen geworden sind. Du
hast uns behandelt wie Aussätzige, du hast uns nie umarmt, du hast nie gesagt,
dass wir hübsch sind. Du hast uns nie das Gefühl gegeben …«
    Ihre Stimme erstarb.
    Sie nahm sich zusammen und richtete sich hoch auf.
    »Und die ganze Zeit hast du … das gemacht«, sagte sie und zeigte mit
schwungvoller Gebärde auf den Fernseher. Die plötzliche Bewegung ließ Morgan
Littlebasket zusammenzucken, als fürchtete er, sie werde ihn noch einmal
schlagen.
    »Hör

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