Niceville
gestrichenen Veranden, überragt
von mächtigen Alleebäumen. Sie holperten über die Hauptstraße – alle Läden und
Geschäfte waren zu dieser frühen Stunde noch geschlossen. Merles Herz raste,
und er mühte sich, es zu beruhigen.
»Das Pflegeheim liegt ein bisschen außerhalb, in einem alten Park an
der Eufaula Lane, das ist da vorne rechts. Sie haben noch gar nicht gesagt, ob
Sie Hilfe gebrauchen können, John. Ich hab immer was dabei, für den Fall, dass
schlechte Menschen einsteigen.«
Albert beugte sich nach links und holte aus einem Fach neben dem
Fahrersitz einen mittelgroßen Revolver aus rostfreiem Stahl hervor. Er war
kantig und überaus hässlich, aber so sauber, dass er glänzte.
»Den hab ich von meinem Vater geerbt – er hat im Burenkrieg
gekämpft. Es ist ein Forehand & Wadsworth, ein .38er, nicht gut auf größere
Entfernung, aber auf kurze Distanz ganz brauchbar. Ich würde mich geehrt
fühlen, wenn Sie mir erlauben würden, Sie zu begleiten.«
Er bog nach rechts ab und hielt etwa dreißig Meter vor einem Tor,
hinter dem ein eingeschossiges, mit einem Flachdach versehenes Gebäude aus
blassgelben Backsteinen zu sehen war, das eher wie ein Blockhaus als wie ein
Pflegeheim wirkte.
Die Häuser in der Nachbarschaft waren alt und umschattet. Hier und
dort brannte in Fenstern ein warmes gelbes Licht und auf einigen Veranden
leuchtete eine Lampe. In der Ferne begann ein Hund zu bellen, und von
irgendwoher ertönte Musik. Schwalben und Mauersegler flogen durch die Luft, und
in den Bäumen an der Straße gurrten Trauertauben.
Das Pflegeheim war von einem schmiedeeisernen, zweieinhalb Meter
hohen und mit Spitzen versehenen Zaun umgeben, dessen Tor weit geöffnet war.
Das Gebäude befand sich mitten in einem großen Park, in dem alte, mit zottigem
Spanischem Moos behangene und in dichten Nebelschwaden halb verborgene Weiden
und Eichen standen. Das Heim hatte nur wenige Fenster, in einigen davon brannte
kühles, nüchternes Licht. Es war nur ein einziger Eingang zu sehen, am
Scheitelpunkt des Wendekreises der Zufahrt: eine breite Doppeltür aus Holz
unter einem steinernen Bogen.
Am Zaun neben dem offenen Tor war ein blaues Metallschild mit
goldfarbener Schrift befestigt:
PALLIATIVPFLEGEHEIM GILEAD
PRIVAT
KEINE BESUCHER
Zwei Männer in blauen Hemden und schwarzen Hosen saßen
unter dem Bogen der Eingangstür. Sie hatten die Stühle leicht hintenüber
gekippt, rauchten und beobachteten, nach der Haltung ihrer Köpfe zu schließen,
den Blue Bird, der keuchend und schnaufend im Leerlauf dastand.
»Mir scheint, wir werden erwartet«, sagte Albert und sah zu den
Männern unter dem Bogen. »Was möchten Sie jetzt tun, John?«
Merle stand auf, griff nach dem Flachmann auf dem Armaturenbrett,
nahm einen Schluck und reichte ihn Albert.
»Wenn Ihr Angebot, mich zu begleiten, noch steht, nehme ich es
dankend an.«
Die Reaktion war ein breites Lächeln.
»Danke. Ich kann ein bisschen Abwechslung gebrauchen.«
Albert trank einen Schluck, verschloss den Flachmann, verstaute ihn
in dem Fach und stellte den Motor ab. Den Zündschlüssel legte er neben den
Flachmann.
»Ich lasse den Schlüssel lieber hier, für den Fall, dass einer von
uns allein zurückfahren muss.«
Er erhob sich ächzend, vergewisserte sich, dass alle Kammern des
Revolvers in seiner Hand geladen waren, sah Merle mit einem ruhigen, klaren
Blick an und beobachtete, wie Merle das Magazin des Colts herauszog,
Patronenlager und Magazin überprüfte, es wieder hineinschob und die Pistole mit
einem vertrauenerweckenden metallischen Schnappen durchlud. Sie schüttelten
sich die Hand. Merle stieg aus. Die beiden Männer hatten sich erhoben und
starrten sie durchdringend an.
Und dann, fast genau in dem Augenblick, da Merles Stiefel
den Boden berührten, geschah etwas. Er stand da, kämpfte gegen das Adrenalin an
und sah sich um – die Straße, das niedrige Backsteingebäude, die Häuser in der
Nachbarschaft, wo alles schlief –, als sich die ganze Szenerie auf eine
undefinierbare, aber überwältigende Weise veränderte.
Die gemütlichen alten Häuser hüllten sich in dichten Nebel, die
Lichter auf den Veranden wurden zu gelblichen Pünktchen und verschwanden
schließlich ganz, der warme Lichtschein in den Fenstern erlosch. Sie standen
allein in dem dichten Nebel, in dem nur noch die gedrungenen Umrisse des Gilead
Palliativpflegeheims undeutlich zu erkennen waren.
Das milchige Licht des frühen Morgens färbte sich kränklich
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