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Niceville

Niceville

Titel: Niceville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Stroud
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eingezogen.«
    Merle war einigermaßen sicher, dass die Wehrpflicht 1973 abgeschafft
worden war, und beschloss, das Thema zu wechseln.
    »Ich glaube, ich habe Ihren Namen nicht verstanden.«
    »Ich heiße Albert Lee, Sir, wie der General, nicht wie die Stadt in
Minnesota«, sagte er grinsend – offenbar machte er diesen kleinen Scherz nicht
zum ersten Mal.
    »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr Lee«, sagte Merle.
    »Albert. Nennen Sie mich Albert.«
    »Wenn Sie mich John nennen.«
    Eine höfliche Pause.
    »Trinken Sie gern mal einen, Sir?«
    »Ja, ab und zu einen Bourbon.«
    Albert Lee zog die Wange zurück, so dass seine Zähne im ersten
Sonnenstrahl blitzten.
    »Ich habe zufällig eine Flasche Napoleon dabei. Würde mich geehrt
fühlen, wenn sie einen Schluck mit mir trinken würden.«
    Er nahm eine Hand vom Lenkrad, griff in ein Fach über seinem Kopf
und holte einen großen Flachmann hervor. Er nippte daran und reichte Merle die
Flasche. Der Cognac ging hinunter wie ein Band aus blauer, mit flüssigem Feuer
getränkter Seide.
    Er wärmte Merle bis in die Absätze seiner Stiefel.
    Er gab Albert den Flachmann zurück.
    »Das ist ein sehr guter Cognac, Albert.«
    »Ja, und ich trinke ihn wirklich sehr gern, normalerweise natürlich
nicht, wenn ich fahren muss. Aber heute ist alles irgendwie ein bisschen
anders, finden Sie nicht auch?«
    »Ja«, sagte Merle.
    In freundschaftlichem Schweigen reichten sie den Flachmann hin und
her. Merle bot dem Mann eine Zigarette an, die dieser dankend nahm. Er drehte
sie mit arthritischen Fingern hin und her, seine Handflächen leuchteten im
goldenen Licht, und in seinen Augen blitzten Humor und Intelligenz.
    »Mit Filter. Die kriegen wir in den Belfair-Hügeln nicht oft zu
sehen. Unten in Niceville vielleicht, aber hier oben nicht. Früher hab ich sie
im General Store am Belfair Pike gekauft – da konnte ich anschreiben lassen.
Aber seit einem Jahr geben die keinen Kredit mehr, wegen der Wirtschaft.«
    Merle dachte, dass man im General Store wahrscheinlich deshalb
keinen Kredit mehr gab, weil Charlie Danziger den Laden am späten
Freitagnachmittag niedergebrannt hatte. Da seine Devise jedoch war, lieber
nicht zu viele Fragen zu stellen, und er zunehmend den Verdacht hegte, dass
Albert Lee zwar ein freundlicher Mensch war, aber eben auch einer dieser leicht
verrückten Hinterwäldler aus den Belfair-Hügeln, vermied er es, darauf
hinzuweisen.
    Stattdessen gab er Albert Feuer und zündete sich ebenfalls eine
Zigarette an. Sie sahen die Landschaft auf sich zurollen: Nebel stieg von den
Feldern auf, die Bäume waren bläuliche Schemen, zwischen golden leuchtenden
Rapsfeldern bewegten sich Rinder als verschwommene dunkle Flecken langsam im
sanften Morgenlicht.
    Sie sahen den silbrigen Glanz eines Kirchturms, als die
Sonnenstrahlen ihn berührten, eine nadelspitze Kerbe im Horizont, und Albert
deutete mit seinem Zigarettenstummel darauf und sagte, das sei der Turm von
Saint Margaret’s in Sallytown.
    In Merles Bauch verkrampfte sich etwas. Er lehnte sich zurück und
starrte auf den Kirchturm, als wäre er die Spitze eines Dolchs.
    Albert spürte den Stimmungswechsel.
    »Ich will mich nicht in Privatsachen einmischen, aber könnten Sie
vielleicht Hilfe gebrauchen, wenn wir in Sallytown sind?«
    »Was für Hilfe?«
    »Na ja, es ist ja praktisch allgemein bekannt, dass Sie dahin
fahren, um Abel Teague zum Duell zu fordern.«
    »Ist das so?«, sagte Merle überrascht, aber nicht erschrocken. Es
wäre verdammt ungewöhnlich, wenn sich das nicht herumgesprochen hätte.
    »Ja«, sagte Albert und sah ihn über die Schulter an. »Und viele
finden, dass es an der Zeit ist. Mrs Ruelle weiß auch Bescheid, nehme ich an.«
    »Ja, sie weiß es.«
    »Ich hatte den Eindruck, dass sie Sie ganz schön lang angesehen hat,
als hätte sie Angst, Sie könnten vielleicht nicht zurückkommen. Soll es nach
den irischen Regeln stattfinden?«
    »Er hatte seine Chance.«
    Schweigen.
    »Mrs Ruelle hat gesagt, dass vielleicht noch zwei andere mitfahren,
Verwandte von ihr, die den Ruelles einen Gefallen schulden, ein Mr Haggard und
ein Mr Walker, aber jetzt sind Sie allein unterwegs, also wird’s wohl keine
Sekundanten geben. Aber Mr Teague ist ja schon mal zum Duell gefordert worden
und nicht erschienen.«
    »Das habe ich auch gehört.«
    Sie fuhren in eine Kleinstadt hinein, eine Ansammlung
viktorianischer Häuser, die noch im Schatten lagen. Es waren schmucke
Backsteinhäuser mit schmalen Fenstern und weiß

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