Niceville
ging durch den langen, schmalen Korridor, der sich an die
Eingangshalle anschloss, vorbei an Türen, die ihn an die erinnerten, an denen
er auf dem Weg zu Rainey Teague im Lady Grace Hospital vorbeigekommen war. Am
Ende des Korridors stieß sein Stiefel gegen etwas Weiches.
Er bückte sich und ertastete die Hand eines Mannes. Sie war kalt,
schlaff und feucht. Seine Finger rochen nach kaltem Kupfer.
Der Mann am Boden bewegte sich, und jetzt konnte Merle ihn auch
flach und keuchend atmen hören. Merle tastete den Boden ab und fand eine kleine
Halbautomatik. Er verharrte ein paar Minuten, hörte den Mann sterben und
versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen.
»Albert?«
Die Antwort klang heiser und gedämpft und hallte in dem Korridor
wider.
»Ich bin hier, John.«
»Wie geht’s Ihnen?«
»Es geht schon. Und Ihnen?«
»Ich glaube, das waren alle. Ich sehe mich mal um. Bleiben Sie hier.
Und laden Sie nach.«
»Hab ich schon. Passen Sie auf sich auf.«
»Mache ich.«
Merle ging weiter und stand nach wenigen Schritten vor einer Wand.
Es gab keine Fenster. Auch hier drinnen kein Glas. Keine Spiegel. Das Haus war
tatsächlich wie ein Bunker und hatte einen T-förmigen Grundriss.
Er hatte das Ende des Hauptkorridors erreicht.
Zwei weitere Korridore zweigten nach rechts und nach links ab, doch
er sah so wenig, dass er ebenso gut hätte blind sein können. Wer auch immer
hier lebte, mochte kein helles Licht, keine Fenster, kein Glas. Merle sah nach
links: nichts. Er sah nach rechts und entdeckte am Ende des Gangs einen schwach
flackernden Schlitz.
Eine geschlossene Tür, und dahinter ein Flackern. Ein vertrautes
bläuliches Flackern.
Ein Fernseher.
In den Korridoren mochte der Strom abgestellt sein, doch in dem
Zimmer gab es welchen. Merle hob die Hand und betastete seine rechte Schläfe.
Er fühlte rohes Fleisch und eine warme Flüssigkeit. Er verzog das Gesicht und
bereute es sogleich.
Er tastete nach seinem linken Ohr.
Es war nicht mehr da.
Aber noch stand er auf den Beinen und konnte sich bewegen.
Er legte die Hand an die Wand, tastete sich vorsichtig weiter und
zählte hundert Schritte, bis er vor der Tür am Ende des Seitenkorridors stand.
Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Im Widerschein
des Lichtstreifens unter der Tür konnte er erkennen, dass an der Wand neben der
Tür eine Rollbahre stand. Etwas lag darauf und war mit einem Laken zugedeckt.
Er richtete die Pistole darauf, griff mit der anderen Hand nach dem Laken und
hob es hoch.
Das bleiche Gesicht eines alten Mannes mit eingefallenen Wangen –
die Augen waren geöffnet und starrten glasig ins Leere. Merle tastete nach dem
Handgelenk des Mannes und hob es in das Licht, das unter der Tür
hindurchschien. Auf dem Armband stand:
Zabriskie, Gunther (»Plug«) Demenz – PV
Also nicht Abel Teague.
Sie hatten das Haus geräumt und nur die Toten zurückgelassen. Er
ließ die Hand los, die sich, da die Totenstarre einsetzte, ganz langsam senkte,
deckte den alten Mann wieder zu und trat an die geschlossene Tür. Er konnte
Stimmen hören, blechern und spröde – offenbar aus einem Fernseher.
Er legte die Hand auf den Türgriff.
Die Tür war nicht verschlossen.
Er packte die Automatik fester und schob mit dem linken Fuß langsam
die Tür auf. Ein dunkler, zellenartiger Raum, etwa fünf Meter lang und vier
Meter breit, fensterlos, beinahe unmöbliert, vier gekachelte Wände, gekachelter
Boden, die Decke glatt und weiß gestrichen.
Ein kleiner Flachbildfernseher auf einem Klapptisch war auf einen
Nachrichtenkanal eingestellt und die einzige Lichtquelle im Raum. Vor dem
Tisch, mit dem Rücken zur Tür, stand ein großer grüner Ledersessel.
Über der Lehne des Sessels sah Merle einen mit Altersflecken
gesprenkelten Schädel, umgeben von einem Kranz aus flackerndem Licht. Im
Fernseher führten zwei blonde Frauen eine hitzige Diskussion, in der es
offenbar um Israel ging.
Merle sah sich vorsichtig um, trat vor den Sessel und sah auf den
Mann hinab. Der war sehr alt, aber keineswegs hinfällig. Er hielt sich
aufrecht, und sein Kopf war kahl, die Haut war faltig und mit Altersflecken
übersät, die Wangen hingen schlaff, die Augen waren beinahe geschlossen und
glänzten im Licht des Fernsehers. Er trug einen blauen Pyjama und einen
bestickten Morgenmantel aus Seide. An den Füßen hatte er mit Lammwolle
gefütterte Hausschuhe. Seine knochigen Hände lagen im Schoß und hielten die
Fernbedienung und ein schweres Glas
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