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Niceville

Niceville

Titel: Niceville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Stroud
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mit einer blassen Flüssigkeit, die
ebenfalls im Licht des Fernsehers leuchtete.
    Neben dem Fernseher standen eine Kristallkaraffe mit einer klaren
Flüssigkeit und ein silberner Kübel voller Eis.
    Der Mann hob die Fernbedienung, stellte die Lautstärke ab und sah
mit weit auseinanderstehenden, leer und kalt blickenden Augen zu Merle auf.
Seine schmalen, bläulichen Lippen bewegten sich.
    »Ich habe Schüsse gehört«, sagte er. »Ich nehme an, Sie haben all
meine Leute erschossen, sonst würden wir nicht miteinander reden.«
    »Ja, hab ich wohl.«
    Abel Teague musterte ihn.
    »Sie konnten sie sehen?«
    »Ich hab sie erschossen, oder?«
    Der Mann blinzelte.
    »Wenn Sie sie sehen konnten, mein Sohn, und die Sie sehen konnten,
sind Sie in größeren Schwierigkeiten als ich. Dann haben Sie schon mehr als die
Hälfte des Weges hinter sich.«
    »Diese Männer, was waren die?«
    Der Mann zuckte die Schultern und machte eine wegwerfende
Handbewegung. Er trank einen Schluck und lächelte Merle an. Seine Zähne waren
weiß und stark.
    »Meine Leute. Ich habe rausgefunden, wie ich sie rufen kann. So wie
sie wohl rausgefunden hat, wie sie Sie rufen kann.«
    »Und jetzt bin ich hier. Stehen Sie auf.«
    »Wissen Sie über sie Bescheid?«
    Er hatte einen leichten Virginia-Akzent, und seine Stimme war zwar
leise, aber klar.
    »Ich weiß über Sie Bescheid.«
    »Tatsächlich? Das glaube ich nicht. Es wäre besser für Sie, wenn Sie
wüssten, was sie in Wirklichkeit ist. Seit der Junge da unten in Niceville
aufgewacht ist und nach mir gefragt hat, wusste ich, dass Sie kommen würden.
Ich hab’s in den Nachrichten gesehen und wusste, das war ihr Werk. Hat sie
Ihnen gesagt, Sie sollen sich John nennen? Um mich an meine Verfehlungen
gegenüber ihrer Familie zu erinnern?«
    »Ja. Ich bin hier im Namen von John Ruelle und seinem Bruder Ethan
Ruelle, um eine alte Rechnung zu begleichen. Und jetzt stehen Sie auf.«
    Der alte Mann lächelte Merle an.
    »Warum? Sie können mich doch gleich hier erschießen.«
    »Sie will, dass Sie im Stehen sterben.«
    Teague sah sich im Raum um, dann blickte er wieder Merle an.
    »Sie benutzt Fenster, wussten Sie das? Sie benutzt Glas. Sie benutzt
die Spiegel. Nach einer Weile wusste ich, wie sie es macht. Der ganze Rest der
Familie ist tot, einen nach dem anderen hat sie gekriegt. Die Fenster, habe ich
ihnen gesagt, die Fenster und Spiegel.«
    Er seufzte.
    »Aber keiner hat auf mich gehört.«
    Er schien sich in Erinnerungen zu verlieren. Dann kehrte er wieder
in die Gegenwart zurück.
    »Also lebe ich in diesem Raum, mein Sohn, ohne Fenster, ohne Glas,
ohne Spiegel. Mein Fenster ist der Fernseher. Damit gehe ich, wohin ich will.
Sehen Sie, junger Mann, wenn man es mit ihr zu tun hat, besteht der Trick
darin, sie nicht einzulassen.«
    Er begann zu keuchen, und es dauerte eine Weile, bis Merle merkte,
dass er lachte.
    »Sie wissen nicht einmal, welches Wesen Sie geschickt hat. Sie
glauben, es heißt Glynis Ruelle. Sie glauben, ich hätte ihr Unrecht getan.
Clara Mercer war ein tolles Mädchen. Aber ich hatte sie schon gehabt, und es
gibt viele tolle Mädchen auf der Welt. Außerdem wollte ich mir nicht sagen
lassen, was ich zu tun hätte. Und sehen Sie nur, wohin mich das gebracht hat.
Ich bin ein Gefangener in dieser Zelle. Seit fünfzig Jahren habe ich diesen Raum
nicht verlassen. Denken Sie bei Gelegenheit mal darüber nach, junger Mann.«
    Er hörte auf zu keuchen und sah Merle lange an.
    »Aber das Wesen, das Sie geschickt hat, mein Freund, ist nicht
Glynis Ruelle. Glynis ist 1939 gestorben. Was jetzt in ihr lebt, was sie in
Gang hält, was diese ganze Geschichte in Gang hält, ist eine Macht, die
unvorstellbar alt ist. Ich habe einen großen Teil dieser fünfzig Jahre hier
damit verbracht, darüber nachzudenken, was es ist. Alles, was ich weiß, ist,
dass es im Crater Sink lebt. Es hasst Niceville, wie es, bevor wir Weißen
kamen, die Creek und die Cherokee gehasst hat. Soweit ich weiß, hat es schon
gehasst, bevor es irgendetwas gab, das es hätte hassen können, schon bevor die
Welt überhaupt existierte. Und es muss fressen. Es hat Clara Mercers wütenden
Geist benutzt, um zu fressen. Oh, ja, ich habe diese Spuren auf dem Boden, auf
der Erde, in den Betten gesehen, wo Menschen verzehrt worden sind. Im Lauf der
Jahre sind beinahe zweihundert bei lebendigem Leib gefressen worden. Ich
wusste, was ich da sah. Aber es gehorcht Regeln. Manche Dinge tut es und andere
nicht. Ich habe herausgefunden, dass

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