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Niceville

Niceville

Titel: Niceville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Stroud
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die Trommel, ging zu dem alten Mann und reichte
ihm den Revolver mit dem Griff voran.
    Teague wendete ihn hin und her und betrachtete ihn.
    »Einen solchen Revolver kenne ich nicht. Ist es ein Single-Action?«
    »Nein. Sie brauchen zum Schießen nur den Abzug zu betätigen.«
    »Sie bluten, mein Junge«, sagte Teague und sah auf Alberts Bauch.
    »Ja.«
    »Darf ich ein, zwei Schüsse abfeuern, um ein Gefühl für das Ding zu
kriegen?«
    Albert zuckte die Schultern.
    »Er will wissen, ob er ein, zwei Probeschüsse abgeben darf.«
    »Sag ihm ja.«
    Albert trat zurück, als der alte Mann mit beiden Händen den Revolver
hob und auf eine Bank zielte, die etwa ebenso weit entfernt war wie Merle.
    Er drückte den Abzug, der kleine Revolver zuckte und gab einen
gedämpften Knall von sich, und in der Mitte der Bank sprang von der Rückenlehne
ein Splitter. Er zielte abermals und feuerte, und die zweite Kugel schlug nur
Zentimeter neben der ersten ein.
    »Gut«, sagte er. »Ich glaube, ich bin bereit.«
    Er wandte Merle die rechte Seite zu, um ein möglichst schmales Ziel
zu bieten, und hielt den Revolver in der neben dem rechten Oberschenkel
hängenden Hand.
    Merle stellte sich ebenso hin, die rechte Seite Abel Teague
zugewandt, die Automatik gesenkt. Es herrschte vollkommene Stille. Merle spürte
sein Herz schlagen.
    Er wollte nicht sterben, aber dann dachte er: Vielleicht sterbe ich ja
nicht. Vielleicht bringe ich das alles hinter mich und kriege irgendwann mein
altes Leben zurück . Der alte Mann starrte ihn mit seinen
Haifischaugen an.
    »Ich werde zählen«, sagte Albert.
    »Bitte«, sagte Abel Teague.
    »Bei drei. Fertig?«
    Teague sah Merle mit kalter Berechnung an.
    »Ich will nicht bei dieser Ernte helfen müssen, mein Sohn.«
    »Hier können Sie nicht bleiben.«
    »Ach, ich weiß nicht. Sie hat achtzig Jahre gebraucht, um einen wie
Sie zu finden. Einen, der zwischen den Welten hin und her wechseln kann.
Vielleicht dauert es bis zum nächsten noch einmal achtzig Jahre. Wenn ich lange
genug am Leben bleibe, finden meine Ärzte vielleicht ein Mittel gegen den Tod.
Alles, was ich tun muss, ist, Sie zu töten.«
    »Das stimmt.«
    Es gab nichts mehr zu sagen.
    Nach kurzem Zögern begann Albert zu zählen.
    »Eins.«
    »Zwei.«
    »Drei.«
    Beide hoben ihre Waffen und feuerten im selben Augenblick. Man hörte
den dumpfen Knall der Automatik und den helleren des Revolvers. In der Ferne
begannen Krähen zu krächzen.
    Sie blieben einige Sekunden stehen und starrten einander an. Dann
sank Merle auf ein Knie, die schwere Pistole fiel ins Gras, und Blut quoll aus
einem kleinen runden Loch knapp unterhalb des Adamsapfels. Auf der Rückseite
seines Halses war ein sehr viel größeres Loch. Albert rannte zu ihm, bückte
sich und fing ihn auf, als er zur Seite sinken wollte.
    Abel Teague tat einen Schritt, er taumelte, tat einen weiteren
Schritt und fiel auf die Knie.
    Er hatte ein großes blutiges Loch in der linken Wange. Das Auge war
geplatzt wie ein rohes Ei. Sein Hinterkopf war verschwunden, und sein Gehirn
war über den Rasen hinter ihm verteilt.
    Er fiel seitwärts, rollte auf den Rücken und sah keuchend in den
Himmel. Er hörte das Krächzen der Krähen und von weit entfernt Alberts Stimme,
die mehr und mehr verklang. Er verschloss seinen Geist und versuchte, den Funken
zu erhalten, denn er dachte, wenn seine Ärzte nur schnell genug wären, könnten
sie vielleicht ein Wunder vollbringen. Als er den Geist einen Herzschlag später
wieder öffnete, sah er auf zu Glynis Ruelle, die sich, überwölbt von einem
hohen blauen Himmel, über ihn beugte und ihn aus grünen Augen musterte. Ihr
pechschwarzes Haar schimmerte im Sonnenlicht.
    »Steh auf«, sagte Glynis, »es gibt Arbeit für dich.«

Kate lernt Clara kennen
    An Schlaf war nicht zu denken, besonders da Nick noch drei
weitere Anrufe von Linus Calder bekommen hatte. Im Augenblick war Nick wieder
im Garten und erzählte seinem Kollegen in allen Einzelheiten, was er in Delia
Cottons Haus erlebt hatte.
    Kate hörte mit halbem Ohr, wie sie Theorien erörterten, die diese
beiden Geschehnisse erklärten, ohne die Naturgesetze in Frage zu stellen.
    Ihr Vater war weder in seinem Büro noch in seiner Wohnung, so viel
wusste sie. Sein Wagen stand auf dem Parkplatz am VMI .
Kate versuchte sich an die Hoffnung zu klammern, dass er vielleicht einen langen
Spaziergang oder gar eine Kneipentour machte, weil der Gedanke, sie zu besuchen
und über Niceville zu sprechen, ihm so sehr

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