Niceville
ich
heute Nachmittag im Garten gesehen habe.«
Sie sagte das ohne dramatische Betonung, mit einer ruhigen
Bestimmtheit, die Nick ernst zu nehmen gelernt hatte. So auch diesmal.
»Dann ist sie also eine Verwandte von dir?«
»Ja, muss wohl so sein.«
»Wer ist sie? Steht ihr Name auf der Rückseite?«
»Ja. Sie heißt Clara Sylvia Mercer. Die berühmte Clara, von der Dad
immer gesprochen hat. Dad glaubt, dass wir über die Mullrynes und die Walkers
weitläufig mit ihr verwandt sind. Mom war eine Mullryne, und ihre Mutter war
eine Mercer.«
Nick betrachtete das Foto eingehender.
Sie
hat große Ähnlichkeit mit Kate.
»Du willst damit doch nicht sagen, dass es dieselbe Frau war, Kate?
Ich meine, das Foto ist von 1910, und darauf sieht sie aus wie sechzehn. Das
heißt, sie müsste jetzt über hundert Jahre alt sein.«
»Bin ich jetzt eine scheiß Verrückte?«
»Nein, ganz und gar nicht.«
»Es war nicht sie, das weiß ich. Sie kann es nicht
gewesen sein, aber es war jemand, der große Ähnlichkeit mit ihr hatte.«
»Wo ist Abel Teague?«
Kate zeigte auf einen breitschultrigen, mittelgroßen, gutaussehenden
jungen Mann mit einer hohen glatten Stirn und Augen, die so hell waren, dass
sie entweder blau oder hellgrau sein mussten.
Abel Teague hatte ein gutes Gesicht, fand Nick. Intelligent,
humorvoll, vielleicht ein bisschen arrogant, aber das waren sie alle. Er trug
kein Jackett, sondern nur ein weißes Hemd und eine, wie es schien, gestreifte
Hose von militärischem Schnitt.
»Was hat es mit dieser Schande auf sich?«
Kate sah ihn an.
»Dad hat gesagt, dass er dir erzählt hat, was mit Niceville nicht
stimmt. Von den Verschwundenen. Von Clara, die in Candleford House eingesperrt
war.«
»Ja. 1935 wollte die State Police die Sache näher untersuchen, aber
bevor etwas dabei herausgekommen ist, hat jemand das Gebäude angezündet.«
»Und im selben Jahr hat das Rathaus gebrannt«, sagte Kate. »Es ist
fast, als hätte jemand Spuren verwischen wollen …«
»Was für Spuren?«
»Ich weiß nicht, Nick. Ob es was mit Rainey zu tun hat?«
»Warum Rainey?«
»Dad hat mir viele Fragen über Raineys Adoption gestellt.«
»Wie zum Beispiel?«
»Wie Miles Rainey überhaupt gefunden hat. Da oben in Sallytown. Wie
seine leiblichen Eltern gestorben sind.«
»Die Gwinnetts. Bei einem Scheunenbrand, stimmt’s?«
»Ja. Noch ein Feuer. Und später sind seine damaligen Pflegeeltern
verschwunden.«
»Was? Das hast du mir nie erzählt.«
»Jedenfalls konnte ich sie nicht ausfindig machen. Und dann ist die
Rechtsanwältin, die sich in Miles’ Auftrag um die Adoption gekümmert hat, ein
Jahr später ertrunken.«
Nicks innerer Polizist erwachte.
»Was du gerade sagst, ist: 1935 sind Leute verbrannt und ertrunken –«
»Und vor sieben Jahren sind wieder Leute verbrannt und ertrunken.«
»Und alle standen sie in irgendeiner Verbindung zur Familie Teague.«
»Ja.«
Nick sah erst den Pappkarton und dann Kate an.
»Wenn du willst, dann stelle ich morgen mal ein paar Ermittlungen
an.«
»Morgen ist Sonntag.«
»Der FBI -Computer
arbeitet auch am Sonntag. Alle Computer arbeiten am Sonntag.
Volkszählungsunterlagen, alles ist –«
Das Telefon läutete.
Kate nahm ab und war innerhalb von dreißig Sekunden in ein
intensives Gespräch verwickelt. Sie sah zu Nick und flüsterte: »Lemon
Featherlight.«
Nick nahm das Foto noch einmal in die Hand, drehte es um und fuhr
mit dem Finger über die Namensliste.
In der Mitte der dritten Zeile fand er den gesuchten Namen.
Sie stand in der dritten Reihe, eine hochgewachsene Frau
mit einem starken Gesicht, aufrechter, aristokratisch wirkender Haltung und
glänzend schwarzem Haar, das von einem Band gehalten wurde, so dass ihr schöner
Hals zu sehen war.
Auch ihr Blick war direkt und durchdringend. Auf dieser alten
Sepia-Aufnahme waren ihre Augen blass – Nick konnte sich vorstellen, dass sie
grün waren.
Sie hatte etwas Sinnliches, doch sie lächelte nicht und schien auf
undefinierbare Art unzufrieden mit der Gesellschaft, in der sie sich befand.
Nick hatte den Eindruck, dass sie sicher eine gute Freundin und eine
liebevolle Ehefrau gewesen war, die eine Beleidigung jedoch gewiss nicht leicht
verzieh. Vermutlich genossen Ehre und Rache, wie in so vielen Familien des
alten Südens, einen hohen Stellenwert in ihrem Leben. Er las noch einmal das
Wort neben Abel Teagues Namen.
Die Handschrift kam ihm bekannt vor.
Wo hatte er sie nur schon einmal gesehen?
Kate
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