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Niceville

Niceville

Titel: Niceville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Stroud
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und so weiter, und
schließlich haben sie beschlossen, die alte Dame zu entführen –«
    »Die Walkers und die Haggards sind ebenfalls reich.«
    »Na gut. Dann ist es eben eine geheime Familienfehde wegen
irgendeinem schrecklichen Geheimnis, das irgendwo in der Vergangenheit
verborgen ist. Aber jetzt droht es herauszukommen, und so entführen die beiden
sie und erwecken den Eindruck, als wären sie einfach verschwunden. Sie besorgen
sich ein paar Granatsplitter und Knochennägel –«
    »In dem netten Laden um die Ecke, wo man gebrauchte Granatsplitter
und Knochennägel verkauft.«
    »Dann schütten sie Azeton auf den Boden und verteilen es, sie
entfernen den Lack, so dass es aussieht, als hätte dort ein Körper gelegen, und
bearbeiten das Ganze vielleicht noch mit einer Lötlampe –«
    »Weswegen sich der Boden warm anfühlt.«
    »Weswegen sich der Boden warm anfühlt. Sie verstreuen die Metallteile,
und weg sind sie, und jeder denkt, sie sind von einem menschenfressenden Geist
gefressen worden, das heißt, jeder, der ein scheiß Verrückter ist, denkt das.
Aber in Wirklichkeit sind sie längst mit Delia Cottons Geld unterwegs nach
Costa Rica. Oder mit ihrem Geheimnis. Oder mit was auch immer.«
    »Klingt vernünftiger als meine Theorie.«
    »Allerdings, mein Freund. Aber Sie sind trotzdem ein scheiß
Verrückter. Kein Mensch sagt heutzutage noch ›weswegen‹. Jetzt schlafen Sie
erst mal. Wir sehen uns morgen früh.«
    Nick legte auf und sah durch die Fenster des Wintergartens ins Haus.
Kate saß im Wohnzimmer und packte einen großen Pappkarton aus. Das Haar hing
ihr in die Stirn, ihre zartgliedrigen Hände leuchteten hell im Licht der
Deckenlampe, und ihr Gesichtsausdruck war aufmerksam und entschlossen.
    Kate blickte mit einem eigenartigen Ausdruck in den Augen
zu ihm auf. Sie hielt einen Stapel alter Fotos in der Hand.
    »Nick, das ist der Karton mit Dads Unterlagen über das Projekt, das
er nie zu Ende geführt hat. Er hat gesagt, ich soll sie mir vornehmen. Willst
du mal was Interessantes sehen?«
    »Klar«, sagte er und setzte sich neben sie auf das Sofa. Sie roch
nach alter Pappe und Spinnweben, und ihre Bluse war staubig.
    Sie blätterte in verblassten Fotografien in Sepiatönen, zog eine
recht große im Format zwanzig mal fünfundzwanzig Zentimeter hervor und legte
sie auf den Tisch.
    Es war ein Gruppenfoto, etwas verblasst, aber noch gut zu erkennen,
und zeigte eine Familienzusammenkunft um die Jahrhundertwende: Fünfzig Menschen
oder mehr standen auf einer großen Steintreppe vor einem mächtigen Türbogen,
links und rechts waren alte Eichen, im Vordergrund ein paar Pferde. Es war eine
wohlhabende, gut gekleidete Familie, die Männer mit schwarzen Anzügen und
gestärkten Kragen, die Frauen mit kunstvoll aufgestecktem Haar,
Spitzendekolletés, eng geschnürten Taillen und zierlichen Füßen, die unter den
mit Spitzen besetzten Säumen der Unterröcke hervorsahen.
    Das Foto war auf steifem Karton gedruckt und mit einem ebenfalls
aufgedruckten Jugendstilrahmen versehen. Darunter hatte der Drucker – Martin
Palgrave & Sons – in gestochener Kursivschrift geschrieben:
     
    ZUSAMMENKUNFT DER NICEVILLE-FAMILIEN
    JOHN MULLRYNES PLANTAGE
    SAVANNAH, GEORGIA, 1910
     
    Kate drehte die Karte um. Auf der Rückseite hatte jemand
in schöner, geschwungener Handschrift die Namen der Menschen auf dem Foto
notiert, von links oben nach rechts unten. Einer der Namen war unterstrichen:

    Daneben stand, in einer anderen Schrift, das Wort

    »Okay«, sagte Nick und sah ihr ins Gesicht. »Abel Teague
ist der Mann, nach dem Rainey gefragt hat, als er aus dem Koma aufgewacht ist.«
    »Ja. Das hat Lacy mir erzählt. Aber da ist noch mehr. Ich will
nicht, dass du denkst ich bin eine von diesen … wie sagt ihr immer?«
    »Scheiß Verrückten?«
    »Ja. Sieh dir mal dieses Gesicht an.«
    Sie drehte das Foto um und zeigte auf das Gesicht einer hübschen
jungen Frau mit hellem, hoch aufgetürmtem Haar, einem langen, eleganten Hals
und weiblichen Rundungen unter der eng anliegenden Corsage. Ihre hellen Augen
blickten den Betrachter direkt an, und ihre vollen Lippen waren leicht
geöffnet. Die meisten Frauen auf dem Foto waren hübsch, doch diese war mehr als
das und hob sich durch eine Aura beinahe herausfordernder Sinnlichkeit von
ihnen ab, die auch ein Jahrhundert später noch spürbar war und Nick geradezu
ansprang.
    »Donnerwetter. Was für ein Feger.«
    »Allerdings. Und außerdem sieht sie genau aus wie die Frau, die

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