Niceville
telefonierte noch immer.
Nick ging die Treppe hinauf und in sein Arbeitszimmer und öffnete
den Wandschrank. Dort hingen seine alten Uniformen und die beiden
Ausgehuniformen mit den Tressen und Orden.
Das Paket lehnte an der Rückwand. Er trug es vorsichtig hinaus. Es
war rechteckig, mittelgroß, in eine alte Baumwolldecke eingewickelt und mit
einem gelben Stoffband verschnürt. Es war schwer und fest. Er packte es
vorsichtig aus.
Es war der Spiegel, in den Rainey Teague geblickt hatte – jedenfalls
hatte es so ausgesehen –, als er vom Erdboden verschwunden war. Der Rahmen war
reich verziert, das Silber auf der Rückseite war mit Gold überzogen, und das
Glas war viel älter als der Rahmen. Es war, hatte Moochie versichert, ein Glas,
wie man es im siebzehnten Jahrhundert hergestellt hatte, und stammte
möglicherweise aus Irland.
Nick betrachtete sein Spiegelbild, er starrte es an, als wollte er
den Spiegel herausfordern, in seinen Händen zum Leben zu erwachen.
Sein Gesicht sah seltsam verzerrt aus, denn das Glas war wellig, und
an einigen Stellen war das Silber abgekratzt. Der Spiegel war schwer, und
obwohl Nick sein Arbeitszimmer wegen des Computers immer kühlte, fühlte sich
der Rahmen warm, ja beinahe heiß an.
Er drehte den Spiegel um und las die Karte auf der Rückseite:
Er hatte das Foto mitgenommen. Er drehte es um und hielt
es neben die Karte.
Er war kein Graphologe, aber selbst ihm war klar, dass die
Handschrift dieselbe war. Wenn Glynis Ruelle die Karte auf der Rückseite des
Spiegels geschrieben hatte, dann hatte sie auch das Wort »Schande« neben den
Namen Abel Teagues geschrieben. Kate rief ihn.
Als er mit dem Spiegel ins Wohnzimmer trat, saß Kate vor ihrem
Laptop und rief ihre E-Mails ab.
Sie sah auf.
»Das war Lemon. In Garrison Hills ist die Straßenbeleuchtung
ausgefallen.«
Nick setzte sich. Er war mit einem Mal sehr müde.
»Und was ist mit den Lichtern im Haus?«
»Die funktionieren. Lemon sagt, es ist, als würde etwas von draußen
gegen die Fenster drücken.«
»Sag ihm, er soll keine Tür und kein Fenster öffnen.«
Er wusste selbst nicht, warum er das gesagt hatte – es musste aus
den tiefsten Tiefen seines Bewusstseins gekommen sein.
Kate starrte ihn an.
»Warum?«
»Ich weiß es nicht. Es ist nur so ein Gefühl. Ruf ihn an und sag es
ihm. Bitte.«
Kate nahm das Telefon und wählte.
Schweigen.
Eine Minute.
Sie legte auf.
»Er meldet sich nicht.«
Nach einer Pause sagte Nick: »Wahrscheinlich ein allgemeiner
Stromausfall.«
»Ja, wahrscheinlich. Ich probier’s mal auf seinem Handy.«
Sie wählte die Nummer. Die Mailbox schaltete sich ein.
»Er meldet sich nicht.«
»Warum hat Lemon angerufen?«
Kate brauchte eine Sekunde, um sich auf diese Frage zu
konzentrieren.
»Er hat in Sylvias Computer etwas gefunden und es mir per E-Mail
geschickt.«
Sie drehte den Laptop herum und zeigte ihm den Bildschirm. Er sah
zwei Bilder, offenbar eingescannte alte Dokumente. Auf einem dritten Bild war
ein eingescannter Zeitungsartikel, der ebenfalls sehr alt wirkte.
Nick beugte sich vor und studierte die Dokumente.
»Was ist das?«
»Das sind Einberufungsbefehle«, sagte Kate. »Ausgestellt im Juni 1917.
Zwei Stück. Sie lauten auf John Hardin Ruelle und Ethan Bluebonnet Ruelle. Und
sieh mal, wer sie unterschrieben hat.«
»Jubal? Ist das nicht dein Großvater?«
»Ja. Lemon hat diese eingescannten Dokumente in Sylvias Computer
gefunden, zusammen mit Volkszählungsunterlagen aus dem Jahr 1910. Dort werden
John und Ethan Ruelle als alleinige Unterstützer ihrer jeweiligen Familien
geführt. Lemon sagt, das bedeutet, dass sie gar nicht auf den
Einberufungslisten hätten auftauchen dürfen. Und rate mal, wer als John Ruelles
Frau aufgeführt ist.«
»Glynis Ruelle.«
»Genau. Lemon hat auch einen Artikel aus dem Cullen County Record vom 27. Dezember 1921 geschickt.«
Sie drückte auf eine Taste, und der Artikel erschien.
Kriegsheld bei illegalem Duell getötet
Die Polizei untersucht den gewaltsamen Tod von Lieutenant Ethan Bluebonnet Ruelle
bei einem Pistolenduell, das am vergangenen Heiligabend vor der Sattlerei am
Belfair Pike stattfand. Laut Zeugen wurde Mr Ruelle, der sich im Großen
Krieg mit Heldentaten ausgezeichnet und bei Mons ein Auge sowie den linken Arm
verloren hat, vor der Sattlerei von Lieutenant Colin Haggard angesprochen. Es
kam zum Streit, und beide Männer erklärten ihre Bereitschaft, die Angelegenheit
an Ort und Stelle auszufechten.
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