Niceville
nötig.
»Okay. Das war ja eine schöne Scheiße, die Sache in Gracie.«
»Ja.«
»Tig hat gesagt, dass du dir mit Marty Coors den Tatort angesehen
hast.«
»Ja.«
Beau wartete.
Nick sagte nichts.
»Tja. Na ja. Tig will dich sprechen. Hat mich gebeten, es dir
auszurichten.«
Beau Norlett war ein netter Junge – tiefschwarz und stark wie ein
Brückenpfeiler. Er hatte einen runden, rasierten Schädel, breite Schultern und
riesige Hände und war so leichtfüßig wie ein Tangotänzer mit der Statur eines
Schwergewichtschampions.
In der Footballmannschaft des Saint Mary’s College war er ein
hervorragender Verteidiger gewesen – mit ein bisschen Glück hätte er auch für
Notre Dame oder Ole Miss spielen können. Wenn man einen Bullen brauchte, der
eine Tür eintrat, war er die richtige Wahl. Wenn man einen gewieften Bullen
brauchte, musste man weitersuchen. Dennoch war Nick der Meinung, dass der Junge
Potential hatte.
Nick lächelte, schlenderte in die Küche, wo es nach feuchten Socken
und Zigaretten roch, und schenkte sich einen Becher heißen, bitteren Kaffee
ein. Er ging zwischen den dicht beieinanderstehenden Schreibtischen hindurch zu
Tigs mit Glaswänden abgeteiltem Eckbüro, von wo man einen Blick über den
Parkplatz hinweg auf die Marmorkuppel des Rathauses hatte. Der Regen fiel
senkrecht und in Schwaden, und die Kuppel sah aus wie ein nasser runder
Felsbrocken auf einem Haufen Ziegelsteine.
Im Nordosten ragte Tallulah’s Wall verschwommen über der Stadt auf
wie eine riesige dunkle Wolke. Der Anblick ließ Nick an Crater Sink denken, und
mit einem Mal stand der Fall Teague wieder in allen Einzelheiten vor ihm.
Schon bevor Sylvia Teague in den Crater Sink gesprungen war – sofern sie wirklich gesprungen war –, hatte Nick immer gefunden, dass über Tallulah’s
Wall eine Art unheilvoller Wolke hing, und hätte ihm jemand gesagt, dass sich
einst sogar die Indianer von diesem Ort ferngehalten hatten, dann hätte er ihm
geglaubt.
Die meisten Kleinstädte hätten um Tallulah’s Wall und Crater Sink
einen Themenpark errichtet und in überregionalen Zeitungen dafür geworben –
Niceville nicht.
Als Nick hierhergezogen war, hatte er Reed Walker einmal gefragt,
warum Tallulah’s Wall allen Leuten in Niceville so unheimlich war. Reed hatte
eine Weile auf seine Hände gestarrt und dann angefangen, eine Geschichte zu
erzählen, die sich angeblich in den zwanziger Jahren am Crater Sink zugetragen
hatte, oder vielleicht auch früher oder später, er war sich da nicht sicher,
aber dann hatte er es sich anders überlegt, noch zwei Bier bestellt und das
Thema gewechselt.
Nick stand vor Tigs Büro und ließ die Erinnerung daran noch einmal
an sich vorbeiziehen. Dann schaltete sein Kopf auf Leerlauf, und er sah den
Wolken zu, die sich an Tallulah’s Wall stauten und ihre graue Regenlast über
die Stadt ergossen.
Jenseits der Kuppel von St. Rock, wie man das Rathaus wegen des
Namens des Bürgermeisters – Little Rock Mauldar – nannte, konnte Nick ein Stück
des Tulip sehen, der nach zwei Stunden heftigen Regens braun von Schlamm war.
Mit einem Ruck löste er sich vom Anblick der trüben grauen Landschaft und des
trüben grauen Morgens und trat in Tig Sutters Büro.
Tig hob den Kopf und sah Nick über den Rand seiner stahlgrauen
Lesebrille hinweg an. Dann lehnte er sich in seinem Drehstuhl zurück, wobei das
hölzerne Ding quietschte wie eine Kellertür in einem Horrorfilm.
»Nick. Was macht die Liebste?«
»Sie ist immer noch da.«
»Wahrscheinlich nur, um zu sehen, was du als Nächstes vorhast. Ich
hab gehört, sie hat dieses Arschloch Bock drangekriegt.«
Bei dem Gedanken daran musste Nick lächeln.
»Allerdings.«
»Ted Monroe hat mir schon immer gefallen. Er ist ein verdammt guter
Menschenkenner. Hat Kate erzählt, wie Bock auf das Urteil reagiert hat?«
»Schlecht.«
»Scheiß auf ihn.«
»Im übertragenen Sinn?«
»In jedem Sinn. Setz dich, Nick.«
Nick nahm sich den Holzstuhl, der unter dem Bild des Präsidenten
stand. Der Präsident reckte das Kinn, er kniff die Augen zusammen und lächelte
schmallippig wie ein Revolverheld. Und dabei starrte er in eine unbestimmte
Ferne, als sähe er dort die sonnenbeschienenen grünen Auen, zu denen er die
Seinen führen würde.
Nick setzte sich auf die Stuhlkante, er stützte die Unterarme auf
die Knie und drehte den Plastikbecher zwischen den langen, schmalen Fingern.
Tig trank einen Schluck Kaffee, Nick trank einen Schluck Kaffee, und so
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