Niceville
bevor sie aufgestanden war, hatte sie den Fernseher auf den
internen Kanal umgeschaltet, um zu sehen, wer da geläutet hatte.
Wer immer an der Tür gestanden hatte, war jemand gewesen, über den
sie sich keine Gedanken gemacht hatte, jemand, den sie gekannt hatte. Eine
Freundin vielleicht. Oder der Gärtner, Gray Haggard.
Hatte sie jemanden erwartet?
Wenn ja, warum hatte sie auf das Kamerabild umgeschaltet?
Vielleicht war sie ja eine paranoide alte Schachtel.
Beau und er würden all ihre Sachen durchgehen müssen, ihre
Unterlagen, Kontoauszüge, alles. Die Vermisstenstelle hatte ihre Beschreibung
bereits an sämtliche County-Dienststellen durchgegeben.
Wenn sie einfach losgelaufen war – vielleicht hatte sie ja einen
leichten Schlaganfall gehabt –, würde man sie finden. Aber es war
unwahrscheinlich, dass beide einfach losgelaufen waren, es sei
denn, sie war bereits verschwunden, als Haggard kam, und nun war er irgendwo
und suchte sie. Oder waren beide gemeinsam weggegangen?
Ohne seinen Wagen?
Oder Delias Wagen?
Hatte sie überhaupt einen?
Ja.
Der marineblaue 75er Cadillac Fleetwood, ein riesiges Blechgebirge,
das auf jeder Straße auffiel wie ein Zeppelin. Aber laut den Unterlagen war der
Wagen wegen eines Achsschadens in der Werkstatt – das war ja auch der Grund,
warum Alice Bayer die Einkäufe hatte bringen wollen.
Nein, diese beiden machten keine kleine Ausflugsfahrt. Hier ging es
nicht um zwei tatterige alte Leute, die schlurfend im Dunkel der Nacht
verschwunden waren.
Bislang verriet das Haus wenig, abgesehen von der Tatsache, dass
Delia Cotton eine Menge sehr teures Zeug besaß, das aber überall herumlag, so
dass Raub als Motiv wohl nicht in Frage kam. Die Opulenz des Hauses und dessen,
was es enthielt, machte deutlich, dass Delia an der Spitze der Nahrungskette
von Niceville stand. Aber sie war ja auch eine Cotton, und die hatten nie
irgendwo anders gestanden und waren Herren gewesen über alles Land, so weit ihr
Auge reichte.
Nick drehte sich mitten im Raum langsam um sich selbst und
versuchte, irgendein Gefühl dafür zu bekommen, was sich hier abgespielt haben
könnte, als er eine hohe Doppeltür mit Glasfüllungen bemerkte, die in eine Art
Esszimmer führte.
Beide Türflügel waren geschlossen, und durch das alte, wellige Glas
konnte man nur ungefähr erkennen, was dahinterlag: dunkles Holz und Messing,
silbern blitzende Gegenstände und über dem Tisch ein großer, wie eine
Silvesterrakete funkelnder Kronleuchter.
Er ging zu der Tür, blieb davor stehen und spähte durch das Glas.
Als er die Hand nach dem vergoldeten Türknauf ausstreckte, spürte er ein
Knirschen unter seinem Fuß.
Er sah auf den Boden und entdeckte ein Klümpchen, das auf den ersten
Blick wie rötliche Kohle aussah. Es war unregelmäßig geformt und kantig, etwa
so groß wie ein Fingerhut. Er hob es auf und legte es auf die Handfläche. Es
war warm, beinahe heiß, und es war keine Kohle.
Er kniete nieder und strich mit der Hand über die Bodendielen, die
aus einem seltsamen Grund ebenfalls warm waren. Vielleicht verlief hier ein
Warmwasserrohr?
Er fand ein zweites Klümpchen und hob es ebenfalls auf. Es war
sternförmig und hatte raue, verbogene Kanten, als wäre es mit gewaltiger Kraft
aus etwas weit Größerem herausgebrochen worden. Für Nick sahen diese beiden
Klümpchen wie Granatsplitter aus.
Er stand auf, steckte die beiden Metallteile ein und untersuchte den
Boden vor der Tür genauer. Der Lack auf den Dielen war verfärbt, als hätte man
versucht, ihn wegzubrennen. Die verfärbte Stelle setzte sich unter der Tür
fort.
Er riss beide Türflügel weit auf.
Das Esszimmer war ordentlich, geräumig und elegant, die Stühle mit
den hohen, leierförmigen Lehnen standen in Reih und Glied um den Tisch, dessen
riesige Platte aus eingelegtem Holz wie ein Topas schimmerte und die Pracht des
Kronleuchters widerspiegelte.
Die eigenartige Verfärbung, der Brandfleck oder was immer es war,
reichte noch etwa einen Meter weit in das Esszimmer. Es sah aus, als wäre hier
eine Flüssigkeit verschüttet und nicht aufgewischt worden – etwas, das so
scharf war, dass es sich durch zahlreiche Lackschichten gefressen hatte.
Das passte gar nicht zum Rest des Hauses, das sich in einem
hervorragend gepflegten Zustand befand. Nick stand da und betrachtete den
Fleck, als ihm auffiel, dass dessen Umrisse in etwa der Gestalt eines Menschen
entsprachen. Der Kopf lag im Hutschachtelzimmer, die Taille auf der Schwelle,
die Beine
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