Nicholas Dane (German Edition)
Moment halte er sich in Spanien auf, komme aber Weihnachten nach Hause. Wie es denn Nicholas gehe. Wenn sie immer noch Kontakt zu ihm habe oder irgendwas von dem Jungen wisse, sei er über eine Nachricht sehr dankbar. Ganz unten stand eine Telefonnummer mit der Bitte, ihn anzurufen.
Jennys Herz machte einen Sprung – oder stolperte es einfach nur nervös in ihrer Brust herum? Bislang war für Nick alles so fürchterlich schiefgelaufen. Jenny musste schnell zur Arbeit und vorher noch Grace und Joe in die Schule schicken, so dass sie in diesem Moment keine Zeit hatte, genauer darüber nachzudenken. Sie legte den Brief in der Küche aufs Regal und wollte sich später darum kümmern.
Am Abend nahm sie den Brief immer wieder in die Hand, las ihn von neuem und wartete darauf, dass die Kinder endlich schliefen. Sie wusste nicht, was sie dem Mann alles erzählen sollte oder ob es besser wäre, seinen Brief einfach zu ignorieren. Sie hoffte nur, dass dieser Anruf Nick nicht noch tiefer in den Schlamassel reißen würde.
Im Kopf probierte sie alle möglichen Gesprächsabläufe, aber dann dachte sie, scheiß drauf. Sie setzte sich, wählte die Nummer und ließ sich überraschen.
Es war ein eigenartiges Gespräch, ein Reden um den heißen Brei, ein vorsichtiges Abtasten, voller Ausflüchte. Michael wollte Informationen, aber Jenny blieb zögerlich. Eines hatte sie ganz klar entschieden – ohne Nicks Einverständnis würde sie nichts tun.
Wo sich Nick aufhalte. Hier und da, sie wisse es nicht genau. Ob sie ihn oft sehe. Gelegentlich. Ob es ihm gut gehe. Es sehe so aus. Wer sich um ihn kümmere. Niemand Spezielles.
»Wissen Sie, meine Liebe, das ist nicht gerade aufschlussreich«, schimpfte Michael leicht verärgert.
»Kann schon sein. Ich würde allerdings gerne wissen, was Sie eigentlich wollen, Mr Moberley.«
Michael überlegte. Die Frage war berechtigt. »Ich weiß es nicht genau«, gestand er. »Ich glaube, ich möchte wissen, ob ich was für ihn tun kann.«
»Und was könnte das sein?«, fragte Jenny mit klopfendem Herzen.
»Ich habe wirklich absolut keine Ahnung.«
So weit kamen sie an jenem Tag. Aber sie verabredeten sich für den Mittwoch vor Weihnachten. Dann wollten sie über Nick sprechen.
An einem jener stürmischen Tage, an denen der Wind zwischen den Gebäuden hindurchfegt und kleine Hände voll Regen in die Luft schleudert, trafen sie sich bei der Statue von Königin Victoria in Piccadilly Gardens: Michael Moberley und Jenny Hayes, die beiden einzigen Menschen auf der Welt, die über genügend Anteilnahme beziehungsweise das nötige Kleingeld verfügten, Nick vor dem Abdriften in die Kriminalität zu bewahren.
Michael liebte dieses Wetter – nach den langen Wochen im milden Klima Spaniens empfand er den kalten Wind als erfrischend. Er schüttelte Jenny die Hand, beide standen sich einen Moment lang lächelnd gegenüber, während der Wind an ihren Jacken zerrte und ihr Haar zerzauste.
»Gehen wir was essen«, sagte Michael. Sie machten sich auf den Weg zu einem Restaurant in der Nähe des Rathauses, redeten über die Weihnachtszeit, die jedes Jahr früher zu beginnen schien, übers Einkaufen und darüber, wie voll es in der Stadt war.
Jenny kam schnell zu der Überzeugung, dass Michael auf der richtigen Seite war – jedenfalls mochte er Mrs Batts genauso wenig wie sie. Während sie aufs Essen warteten, erzählte Jenny ihm dies und das, und dann plötzlich, ehe sie sich’s versah, schüttete sie ihm ihr Herz aus. Dabei wurde sie sogar von Tränen übermannt, was ihr ausgesprochen peinlich war.
»Ich habe ihn im Stich gelassen, ich habe ihn so fürchterlich im Stich gelassen«, schluchzte sie, überwältigt von Kummer und Schuldgefühlen. Michael war vollkommen überrascht. Er wusste nicht, was er erwartet hatte – Zorn, Achselzucken, Erleichterung? Dass sie ihm Geld abluchsen wollte? Auf so einen Ausbruch von Mitgefühl und Mitleid war er überhaupt nicht gefasst gewesen.
»Er war immer so offen, und jetzt erzählt er mir fast gar nichts mehr«, weinte Jenny und fuhr sich mit der Serviette übers Gesicht. »Er traut niemandem. Ich weiß nicht, wo er wohnt. Er hat zwar eine Bleibe, aber Gott weiß wo oder bei wem. Ich glaube, er stiehlt. Ich fürchte, er hat mit Drogen oder so was zu tun. Ich möchte ihm Geld geben, aber jedes Mal, wenn er kommt, bringt er mir was mit. Er ist erst fünfzehn, er sollte zur Schule gehen. Muriel wollte, dass er studiert, und was ist jetzt? Und alles ist meine
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