Nicholas Dane (German Edition)
wie alles getan, um herauszufinden, was ihre Nachbarn taten oder ob sie Hilfe brauchten, einfach nur, weil sie in derselben Straße wohnten.
Ehe Nick wusste, wie ihm geschah, saß er in Evelyn Ashs Küche, bekam zwei Eier auf Toast und dazu Erdbeermilch, womit sie ihn verwöhnte, seit er drei oder vier war.
»Deine arme Mum«, sagte sie und setzte sich mit einer Tasse Tee ihm gegenüber. »Ich war ja vielleicht was schockiert. Ich weiß nicht, wieso sie das überhaupt noch gemacht hat. Wer hätte das geahnt?« Sie schüttelte den Kopf und blickte ihn mit ihren großen blauen Augen voller Mitleid an. »Und keine Verwandten!« Das konnte sie kaum verstehen, da sie selbst doch so viele hatte. »Nun, Nick, an meinem Tisch ist immer Platz für dich, das weißt du doch.«
Nick verdrückte seine Spiegeleier. Wer hätte das geahnt, hatte Evelyn gesagt. Keiner hatte was gewusst, hatte Amanda gesagt. Wer hätte was geahnt haben können? Niemand hatte wovon was gewusst? Er jedenfalls hatte keinen Schimmer, so viel war klar.
Langsam hatte er genug davon, nichts zu wissen.
Er nahm einen Schluck von seiner Erdbeermilch und wartete ab.
»Du weißt doch, dass ich Jenny reingelassen habe?«, fragte Evelyn. Er nickte. »Grässlich«, fuhr sie fort. »Wie sie da vor dem Kamin kniete. Sie sah aus, als würde sie beten, mal abgesehen von dem ausgestreckten Arm.« Sie schüttelte den Kopf und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Das werde ich nie vergessen!«, rief sie und fummelte in ihrem Ärmel nach dem Taschentuch. Sie putzte sich die Nase und blickte ihn über das Tuch hinweg an.
»Wir haben in der Schule nach dir gefragt, aber da warst du natürlich nicht«, schimpfte sie mit einem matten Lächeln. »Deine Mum wäre fuchsteufelswild geworden.«
Sie haben in der Schule nach mir gefragt? Davon hatte Nick keine Ahnung gehabt. Das Gefühl, dass er viel, viel weniger wusste, als er hätte wissen müssen, wurde übermächtig groß.
»Und was meinst du, woran sie gestorben ist?«, fragte er.
Evelyn hörte mitten im Schnauben auf. »Du weißt es gar nicht«, stellte sie fest. Dann wurde ihr klar, dass sie gerade mehr oder weniger gesagt hatte, dass sie es wusste, und ihre Unterlippe sackte ein wenig nach unten.
»Was weiß ich nicht?«, hakte Nick nach. Er spannte alle Muskeln an, als bereitete er sich auf einen Schlag vor.
In Evelyns Kopf ratterte es. »Hatte sie … hatte deine Mum Diabetes?«, fragte sie verzweifelt.
»Nein.«
»Nein.« Evelyn biss sich auf die Lippe. »Nur, weil sie seit ein paar Jahren ihren Tee ohne Zucker trinkt«, erklärte sie.
Nick dachte einen Augenblick lang darüber nach, dann blickte er sie erwartungsvoll an.
»… irgendwelche Medikamente?«, stammelte sie.
»War sie krank? Sie hätte es mir doch gesagt, wenn sie krank gewesen wäre, oder?«
Evelyn seufzte laut und blickte von einer Seite zur anderen, als könnte sich irgendwo ein Fluchtweg auftun. Sie redete sich gerade um Kopf und Kragen.
»Ach, Junge, Nick, ach, Nick, mein Junge, du armer Kerl, ach Nick, ach!«, sagte sie und flüchtete sich in die einzige Richtung, die ihr blieb, vergrub das Gesicht in ihrer Schürze und fing an zu schluchzen.
Nick rührte sich nicht und wartete ab.
»O Nick, sie hatte eine Nadel im Arm, das war’s«, jaulte sie plötzlich. »Sie lag auf den Knien vor dem Kamin, der eine Arm war ausgestreckt und darin steckte eine Nadel. Ich weiß nicht, was das war, Nick. Ich habe keine Ahnung.« Sie blickte ihn über den Schürzenrand hinweg an. »Es war Heroin!«, rief sie und brach wieder in Tränen aus. »O Nick! Die Polizei hat gestern euer Haus durchsucht, von oben bis unten, sie haben alles auf den Kopf gestellt, es war schrecklich. Ach, mein lieber Nick, jetzt bin ich damit einfach so rausgeplatzt, dabei geht mich das doch gar nichts an. Wirst du mir je vergeben können? O Nick, es tut mir furchtbar leid!«
Nick saß ganz still und nahm die Information ruhig auf. So war das also. Seine Mutter war ein Junkie. Jenny hatte es gewusst. Mrs Batts hatte es gewusst. Amanda hatte es gewusst. Evelyn wusste es. Und wenn Evelyn es wusste, wussten es alle.
Der Einzige, der nichts gewusst hatte, war er selbst.
Nick war wütend. Aber er hatte eine Eigenschaft, die ihm in den nächsten Monaten sehr nützlich werden sollte – er fand immer einen Ausweg. Selbst wenn die Welt um ihn herum in Stücke zerbrach, ihm fiel immer etwas ein. So auch jetzt. Er langte über den Tisch und berührte Evelyns Hand.
»Schon gut,
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