Nicholas Dane (German Edition)
Evelyn. Ich hab das doch gewusst.«
Ihr altes Gesicht tauchte rot und tränennass aus der Schürze auf. »Du hast das gewusst? Die ganze Zeit?«
»Aber ich habe gedacht, sie hätte aufgehört. Du kennst doch Mum. Sie sagt mir nie was.« Nick lächelte. Das hatte er gut gedeichselt, unter diesen Umständen – jedenfalls gut genug für Mrs Ash. Sie nahm die Schürze herunter.
»Über solche Sachen redet man doch nicht«, sagte Nick entgegenkommend.
»Sucht ist etwas Entsetzliches, Nick. Ich habe das schon so oft erlebt. Vor allem mit Alkohol. Eine Nichte – zwei Nichten. Mindestens ein Bruder, vielleicht sogar zwei. Erinnerst du dich an Frieda?«
Aber Nick war nicht in der Stimmung, sich Familiengeschichten anzuhören. Er hatte genug erfahren. Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf.
»Vielen Dank, Evelyn. Ich muss jetzt los. Bin nur schnell vorbeigekommen, weil ich mir ein paar Sachen holen will.«
»Ach, danach gehst du wieder zu Jenny? Sie war deiner Mutter eine gute Freundin. Sie war völlig geschockt, die Arme, ich habe gedacht, sie bricht mir zusammen, so außer sich war sie. Ich hab ja gedacht, sie wär gekommen, weil sie was abhaben wollte von dem Zeug, du weißt schon. Aber sie hat geschworen, sie hat überhaupt nichts davon gewusst. Ach, Sucht ist was Fürchterliches. Bringt Familien auseinander. Macht aus ordentlichen Menschen Lügner und Diebe.« Sie nickte und rieb sich das Gesicht. »Jenny wird sich um dich kümmern, mein Junge. Ein Glück, dass du sie hast.«
Sie brachte ihn zur Tür und schaute ihm nach, wie er ihre Vortreppe hinunter- und dann seine hinaufging. Er steckte den Schlüssel ins Schloss und verschwand im Haus.
Nicks erster Eindruck war, dass alles viel zu sauber war. Das vordere Zimmer sah aus, als wäre es frisch gesaugt worden. Nicht nur gesaugt, es lagen nicht mal Zeitungen auf dem Boden. Der Fernseher glänzte, auf dem Tisch lag kein Stäubchen. Es roch komisch … nach Möbelpolitur, oder?
Evelyn hatte gesagt, die Polizei sei da gewesen und habe das Haus durchsucht. Nick hatte plötzlich ein bizarres Bild vor Augen: Ein Polizist in Uniform und Helm sauste mit dem Staubsauger und einer Dose Politur in der Hand durchs Haus. Machten die das so nach einer Hausdurchsuchung? Wirklich?
Er ging aufs Klo, wo es nach Scheuermitteln roch. In der Küche stank es genauso. Wo war der Krempel hin, der da immer rumlag? Alle Arbeitsflächen waren leer, der Tisch blitzte, und der Herd sah so aus, als wäre noch nie auch nur ein Ei darauf gekocht worden.
Er zog eine Schublade auf und guckte hinein. Wo waren die Staubsaugerbeutel, die Putz- und Geschirrtücher abgeblieben? Er fand sie schließlich unter der Spüle. Langsam wurde ihm klar, dass sich alle Dinge woanders befanden. In dem Tonkrug auf dem Fensterbrett, in den die Holzkochlöffel gehörten, steckten nun die frisch gesäuberten getrockneten Blumen, die bislang als staubige Dekoration in der grünen Vase auf dem Regal gestanden hatten, aus der wiederum nun ein halbes Päckchen Räucherstäbchen herausguckte.
Verwirrt und verzweifelt lief Nick von einem Raum zum nächsten. Sein Haus war nicht mehr sein Haus.
Er machte sich daran, alles systematisch zu untersuchen. Er begann in der Küche, ging alle Schränke und Regale durch, die Stapel mit Postkarten, Briefen, Rechnungen und anderen Dingen, die sich im Laufe der Jahre angesammelt hatten. Er kramte in Tassen mit alten Knöpfen, Korken, Messinghaken, Nägeln, Garn und diversen Dingen, die man eines Tages noch brauchen könnte. Es wurde immer eigenartiger, denn selbst hier war nicht alles so, wie es sein sollte – die Knöpfe waren in den falschen Bechern, die Papiere auf den falschen Stapeln. Es war, als hätte ein teuflischer Kobold Nicks Leben in die Hand genommen, alles, was darin war, durchgemischt, auf den Boden geworfen, neu zusammengestellt und es ihm dann so merkwürdig drapiert zurückgegeben.
Was suchte er? Er hatte keine Ahnung. Vielleicht seine Mutter, die sich in einem Schrank versteckte, oder irgendeine Erinnerung an das Leben, das er eben noch gelebt hatte. Irgendwelche Hinweise – Informationen über seine Mutter, wer sie wirklich war –, eine Nadel, ein Päckchen weißes Pulver, die Adresse des Dealers, der sie umgebracht hatte. Anweisungen von ihr, was er als Nächstes tun sollte. Lieber Nick, gehe zu der und der Adresse, da wirst du Geld finden, ein Zuhause und eine neue Mutter. Ich liebe dich, Mum.
Aber von Muriel war kein Wort mehr zu erwarten.
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