Nicholas Dane (German Edition)
einem Kinderheim in Northumberland hierhergekommen war. Dort hatten seine Frau Janice und er wahre Wunder bewirkt, darüber waren sich alle einig gewesen. Sie waren gefeiert, bewundert, befördert worden. Das waren glorreiche Zeiten gewesen. Ein anderer, junger, verträumter und schlanker Bill James hatte damals das Leben einiger Jungen verändert. Er hatte die Elenden aufgenommen und sie voller Zuversicht auf eine gute Bahn gebracht. Freundlichkeit und Strenge, ein guter Lehrkörper und Respekt hatten Wunder bewirkt.
Aber in Meadow Hill gelang ihm nichts. Meadow Hill war ein Morast. Die Jungen in Manchester schienen viel schwieriger zu sein. Was er auch tat, er richtete nichts aus. Die Jungen waren so abgrundtief schlecht, dass er fast glaubte, die Schlägereien, die Lügen, der Vandalismus, die Gewalt, das Stehlen, der Schmutz, die totale Abwesenheit jeglichen Benimms, jeglichen Selbstrespekts stammten aus einer Zeit, die weit zurücklag, nicht nur Hunderte, sondern Millionen von Jahren. Diese Jungen hatten sich von lügenden, stehlenden kleinen Fischen über lügende, stehlende kleine Frösche und lügende, stehlende kleine Ratten zu den lügenden, stehlenden Scheißkerlen entwickelt, die sie jetzt waren – eine widerwärtige, kriminelle Unterschicht, ihm zur Qual herangezüchtet.
Aber das war die Depression, die da aus ihm sprach. Es waren doch einfach Jungen – in jedem steckte etwas Gutes, wenn man nur herankam, und dass Mr James das nicht schaffte, das war sein persönliches Versagen. Kurz nachdem er und seine Frau Janice nach Meadow Hill gezogen waren, war Janice, seine beste Freundin und Verbündete, seine Inspiration und rechte Hand, seine Partnerin in Zuversicht, selbst in den Abgrund gestürzt. Sie war depressiv geworden. Ausgelöst durch mehrere Fehlgeburten. Den Verlust der Kinder hatte sie nicht ertragen. Das war zu erwarten gewesen, sie war so veranlagt – aber sie kam da einfach nicht mehr raus. Was einst so hell war, dachte er, hatte sich verfinstert.
Ehrlicherweise muss gesagt werden, dass Mr James seiner Frau nicht in viel nachstand. Die meiste Zeit verbrachte er damit, sich um sie zu kümmern. Seinen Posten als Heimleiter hätte er längst aufgeben müssen, wenn nicht sein Stellvertreter Tony Creal gewesen wäre.
Nicht zum ersten Mal war Mr James froh und glücklich, so einen guten Freund zu haben. Der Mann war vorbildlich, unermüdlich in seinem Optimismus. Er konnte immer noch das Gute sehen, im Gegensatz zu Mr James. Dem war irgendwann die Vision abhandengekommen, während der vielen Jahre, in denen er sich bemüht hatte, seine geliebte Janice aus dem Zwielicht zu befreien, in das ihre Seele versunken war.
Mr James wackelte durch das Gartentor in der hohen Ligusterhecke, die sein Haus umgürtete, und verschwand aus dem Blickfeld der übrigen Bewohner Meadow Hills. Leise schloss er die Tür hinter sich.
»Janice? Alles in Ordnung?«, fragte er.
Von oben war eine gedämpfte Stimme zu hören. Es klang, als würde sie Okay sagen, aber er wusste, dass das nicht stimmte. Janice war noch im Bett. Er seufzte. Wieder ein schlechter Tag.
Schwerfällig machte er sich auf den Weg nach oben und öffnete die Tür zu dem abgedunkelten Zimmer. Unter dem Federbett rührte sich ein traurig aussehendes kleines Etwas.
»Hast du schon gefrühstückt, meine Liebe?«, fragte er.
»Hab keinen Hunger«, krächzte eine ausdruckslose Stimme. Das war’s. Er ging zum Schrank, öffnete ihn und holte ein Glas mit Tabletten heraus.
»Wie wär’s mit einem Pillen-Frühstück?«, schlug er müde lächelnd vor.
Janice’ Kopf kam zum Vorschein und nickte. Valium war ein Segen. Er versuchte immer, sie davon abzubringen, aber sobald er das durchgesetzt hatte, ging es ihr nur noch schlechter. Einmal hatte sie das Zeug drei Tage lang nicht genommen, und da hatte sie tatsächlich mal das Haus verlassen, war im Nachthemd auf dem Gelände herumgelaufen und hatte den Ausgang gesucht. Ein Mordsspaß für die Jungen.
Wahrscheinlich hatte sie bereits die verschriebene Dosis eingenommen, aber an Tagen wie diesem reichte das nicht. Zum Glück hatte er einen privaten Vorrat.
Janice schluckte ihre kleinen Helferlein. Ihr Mann beugte sich hinunter, um sie zu küssen – seine Liebe hatte nie nachgelassen, auch wenn seine Fürsorge inzwischen ausgesprochen verhängnisvoll geworden war. Janice war sicherlich depressiv, aber nun war sie auch noch valiumsüchtig. Die Versuche ihres Mannes, sie von den Tabletten
Weitere Kostenlose Bücher