Nicholas Dane (German Edition)
Betreuung ihres Kindes etwas sorgfältiger gewesen, meinst du nicht? Aber das Gute ist, Nicholas, dass du jetzt eine Alternative hast zum Leben auf der Straße, wo es keinen anderen Trost gibt als billige Drogen.«
Mr James zog die Augenbrauen hoch, sah Nick an und wartete auf eine vernünftige Antwort. Nick warf ihm einen finsteren Blick zu. »Ich habe überhaupt nichts gemacht, Sir«, sagte er noch einmal. Dabei trieb er sich wirklich gerne auf der Straße rum. Gegen Drogen hatte er auch nichts, wenn er welche in die Finger bekam, obwohl er bislang nur ein bisschen Gras geraucht hatte.
Mr James raschelte mit seinen Papieren. »Ich glaube, du hast mich nicht ganz verstanden, oder?«
Sie können mich mal, Mr James , antwortete Nick. Aber nicht laut.
»Ich will ehrlich zu dir sein, Nick. Die Liebe einer Mutter können wir dir hier nicht bieten. Die ist dir genommen worden. Doch wir bieten dir eine umfassende Erziehung, jede Menge sportliche Betätigung und ein ordentliches Zuhause. Es gibt viele Jungen, die dafür einiges tun würden – obwohl nur herzlich wenige hierherkommen können«, murmelte er, wie zu sich selbst. »Also, Nicholas! Mach du das Beste draus, und wir werden das Beste aus dir machen.«
Mr James blickte wieder in die Akte.
»Gut in der Schule. Keine Ausfälle, steht im Zeugnis. Wunderbar – ein Junge ohne Ausfälle! Ein Multitalent. Großartig. Aber! … Was ist das? Anwesenheit: unregelmäßig. Aha. Keine Ausfälle – aber auch kein Talent für Disziplin.« Er schüttelte den Kopf. »Ich kenne keine Schulschwänzer, die das später nicht bereut hätten«, bemerkte er. »Aber es ist ja schon schwer genug, euch Jungs Geografie beizubringen, ganz zu schweigen von Klugheit. Nun, hier wird nicht geschwänzt. Bei uns ist alles eine Einheit – Wohnen, Schule, Freizeit –, alles an einem Ort.« Er schickte ein Lächeln über den Schreibtisch. »Abhauen unmöglich. Wohin auch. Gestohlen wird nicht. Hier gibt es nichts zu stehlen.«
Er lehnte sich zurück und lachte über seinen eigenen Scherz – der, traurig genug, mehr oder weniger der Wahrheit entsprach.
Mr James griff zum Telefon und verlangte, dass ihm ein Junge hochgeschickt werde. Er saß da und wartete, lächelte versonnen und drehte Daumen. Nach ein paar Minuten klopfte es an der Tür.
»Herein«, trötete Mr James. Die Tür ging auf und ein blasser, schmächtiger Junge mit einem lockigen blonden Wuschelkopf, etwa ein Jahr jünger als Nick, betrat den Raum.
»Oliver, das ist Nicholas«, sagte Mr James. Die beiden Jungen musterten einander vorsichtig. »Bring ihn zu Mr Toms, ja? Er muss eingewiesen werden. Kümmer dich um ihn. Und ich glaube, er könnte ein Bad gebrauchen.«
»Mach ich, Sir«, piepste Oliver. Mr James entließ die beiden, und der blonde Junge führte Nick aus dem Büro aufs Gelände.
Sobald sie sein Büro verlassen hatten, seufzte Mr James und ordnete die Papiere in Nicks Akte. Er glaubte nicht, dass der Junge große Chancen hatte. Schrecklich, in dem Alter die Mutter zu verlieren, selbst wenn sie ein Junkie war. Sein Heim bot allen einen neuen Anfang, ja, aber das Material, mit dem er hier arbeiten musste, war leider alles andere als neu. Im Großen und Ganzen eigentlich sogar ziemlich kaputt. In Meadow Hill landete nur der Abschaum. Die Jungen waren ungebildet, weil sie jahrelang die Schule geschwänzt hatten, schlecht ernährt, weil sie jahrelang mieses Essen bekommen hatten. Sie hatten schlechte Vorbilder gehabt, es hatte sich niemand um sie gekümmert, und sie hatten vor nichts und niemandem Respekt, am wenigsten vor sich selbst.
»Ich hab doch gar nichts gemacht«, murmelte Mr James vor sich hin. Der war einfach noch nicht erwischt worden, das war alles. Wie oft hatte er so etwas schon gesehen und gehört. Tja, man konnte einen Fisch ins Wasser werfen, schwimmen aber musste er alleine, wie seine Frau zu sagen pflegte.
Er blickte auf die Uhr. Zwei Uhr. Es lagen noch ein paar Akten auf seinem Schreibtisch, in die er einen Blick hätte werfen müssen. Aber das konnte warten. Oder Tony Creal, sein Stellvertreter, sollte sich darum kümmern.
Bill James drückte sich aus seinem Stuhl hoch und ging die kurze Strecke zu seiner Dienstwohnung hinüber. Er gab sich Mühe, bei seiner Arbeit in Meadow Hill nicht den Optimismus zu verlieren, aber das war schwer, nicht zuletzt, weil er wusste, dass er nicht das erreicht hatte, was er sich vor fünfundzwanzig Jahren als junger Heimleiter vorgenommen hatte, als er von
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