Nicholas Flame Bd. 1 Der Unsterbliche Alchemyst
sie.
Josh wandte sich wieder an Sophie. Er begann zu ahnen, wie tief die Kluft war, die ihn inzwischen doch von seiner Schwester trennte. »Hast du eine Ahnung, wovon er geredet hat? Dass du dich vor dir selbst schützen musst? Was soll das heißen?«
Sophie runzelte die Stirn. »Ich glaube, ich weiß es. Alles um mich herum ist so… laut, so hell, so klar, so intensiv. Es ist, als hätte jemand die Lautstärke aufgedreht. Meine Sinne sind so geschärft, du kannst dir nicht vorstellen, was ich alles höre.« Sie wies auf einen verbeulten roten Toyota, der langsam die Straße hinunterfuhr. »Die Frau in dem Auto dort telefoniert mit ihrer Mutter. Sie sagt, dass sie zum Abendessen keinen Fisch möchte.« Dann zeigte sie auf einen Lieferwagen, der in einem Hof auf der anderen Straßenseite stand. »Er hat da hinten einen Aufkleber. Soll ich dir vorlesen, was draufsteht?«
Josh kniff die Augen zusammen. Er konnte nicht einmal das Nummernschild lesen.
»Das Essen heute hat so intensiv geschmeckt, dass mir fast übel geworden wäre. Ich konnte jedes einzelne Salzkörnchen auf dem Sandwich schmecken.« Sophie blieb stehen und hob ein Jakarandablatt auf. »Ich kann mit geschlossenen Augen jede Ader auf der Rückseite des Blattes fühlen. Aber weißt du, was das Schlimmste ist? Die Gerüche.« Dabei schaute sie ihren Bruder vielsagend an.
»He…« Seit der Pubertät hatte er sämtliche Deos auf dem Markt ausprobiert.
»Nein, nicht nur du.« Sie grinste. »Obwohl du dir wirklich ein anderes Deo zulegen solltest und deine Socken wahrscheinlich verbrennen musst. Ich meine einfach alle Gerüche, die ganze Zeit über. Der Benzingestank in der Luft ist schrecklich, der Geruch nach Gummi auf der Straße, fettiges Essen… Selbst der Duft der Blumen ist kaum auszuhalten.« Sie blieb mitten auf dem Bürgersteig stehen und sah ihren Bruder an, und Tränen, die sie nicht hatte aufsteigen spüren, liefen ihr plötzlich über die Wangen. Ihr Ton war völlig verändert. »Es ist zu viel, Josh, einfach zu viel. Mir ist schlecht und mein Kopf dröhnt, die Augen tun weh und die Ohren genauso und mein Hals ist wundgescheuert.«
Josh wollte seine Schwester in den Arm nehmen, aber sie hielt ihn auf Abstand. »Bitte nicht berühren. Ich ertrage es nicht.«
Josh suchte nach Worten, doch es gab nichts, was er sagen oder tun konnte. Er fühlte sich vollkommen hilflos. Sophie war immer so stark gewesen, hatte alles im Griff gehabt. Zu ihr war er gegangen, wenn er Probleme hatte, und sie hatte immer eine Antwort gewusst.
Bis jetzt.
Flamel! Josh spürte wieder die Wut in sich aufsteigen. Das war alles Flamels Schuld. Er würde dem Alchemysten nie verzeihen, was er getan hatte. Als er aufschaute, sah er, dass Flamel und Scatty sich zu ihnen umgedreht hatten.
Scathach kam zurückgelaufen. »Wisch dir die Tränen ab«, befahl sie streng. »Wir wollen nicht, dass die Leute auf uns aufmerksam werden.«
»Wie redest du mit meiner Schwes-«, begann Josh, doch Scatty brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen.
»Komm, ich bringe dich in den Laden meiner Großmutter, sie wird dir helfen können. Es ist gleich auf der anderen Straßenseite.«
Sophie fuhr sich gehorsam mit dem Ärmel über die Augen und folgte dann der Kriegerprinzessin. Sie fühlte sich so hilflos. Sie weinte nur selten – selbst am Ende von Titanic hatte sie gelacht – warum also jetzt?
Zu Anfang war sie im Stillen sogar begeistert gewesen von der Vorstellung, dass ihre magischen Kräfte geweckt werden sollten. Der Gedanke, ihren Willen jederzeit in die Tat umsetzen zu können, ihre Aura-Energie in bestimmte Bahnen lenken und zaubern zu können, hatte sie fasziniert. Doch was sie jetzt erlebte, war alles andere als begeisternd. Sie fühlte sich gebeutelt und erschöpft. Sie hatte Schmerzen. Und sie hatte Angst, dass diese Schmerzen nicht mehr weggehen würden. Was würde sie dann machen – was konnte sie machen?
Sophie merkte, dass ihr Bruder sie besorgt anschaute. »Flamel hat gesagt, dass die Hexe dir helfen kann«, meinte er.
»Und was ist, wenn sie es nicht kann, Josh? Was dann?«
Darauf wusste auch er keine Antwort.
Sophie und Josh überquerten die Hauptstraße und traten unter die Arkaden, die über die gesamte Länge des Gehwegs liefen. Augenblicklich sank die Temperatur auf ein erträgliches Maß, und Sophie merkte, dass ihr T-Shirt ihr eiskalt am Rücken klebte.
Sie traten zu Nicholas Flamel, der bereits vor einem kleinen Antiquitätenladen stand – mit
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