Nicholas Flame Bd. 1 Der Unsterbliche Alchemyst
sagte Nicholas Flamel. »Nicht hinschauen.«
Aber es war zu spät. Josh hatte die Ratte bereits entdeckt. »Die Ratte da? Die Ratte beobachtet uns? Das kann nicht dein Ernst sein!« Josh fixierte die Ratte in der Erwartung, dass sie sich umdrehte und davonhuschte. Doch sie hob nur den Kopf und blickte zurück. Dann öffnete sie das Maul und zeigte ihre spitzen Zähne. Josh lief es kalt über den Rücken. Schlangen und Ratten – er konnte beide nicht ausstehen. Noch mehr allerdings hasste er Spinnen. Und Skorpione.
»Ratten haben doch normalerweise keine roten Augen, oder?«, fragte er seine Schwester, die, soweit er wusste, vor gar nichts Angst hatte.
»Normalerweise nicht«, antwortete sie.
Als er sich wieder zur Gasse hin umdrehte, saßen schon zwei pechschwarze Ratten dort. Eine dritte kam aus dem Dämmerlicht, setzte sich daneben und schaute zu ihnen herüber.
»Okay«, sagte Josh schließlich, »ich habe Menschen gesehen, die aus Lehm waren, warum soll es dann keine Rattenspione geben? Ob sie auch sprechen können?«, überlegte er laut.
»Mach dich nicht lächerlich«, fauchte Flamel. »Es sind Ratten.«
Josh hielt seine Frage keineswegs für so lächerlich.
»Hat Dee sie geschickt?«, wollte Sophie wissen.
»Er folgt uns. Die Ratten haben am Laden unsere Spur aufgenommen. Ein simpler Spähzauber lässt ihn sehen, was sie sehen. Sie sind primitive, aber effektive Werkzeuge, und wenn sie unseren Geruch erst einmal aufgenommen haben, können sie uns folgen, bis wir durchs Wasser gehen. Aber die da machen mir mehr Sorgen.« Er wies mit dem Kinn nach oben.
Sophie und Josh schauten hoch. Auf den Dächern der umliegenden Häuser saßen ungewöhnlich viele schwarze Vögel.
»Krähen«, sagte Flamel nur.
»Sie haben etwas Schlimmes zu bedeuten?«, vermutete Sophie. Von dem Moment an, in dem Dee die Buchhandlung betreten hatte, war so ziemlich alles schlimm gewesen.
»Es könnte etwas sehr Schlimmes sein. Aber ich denke mal, uns passiert nichts. Wir sind fast da.« Flamel wandte sich nach links und führte die Zwillinge ins Herz von San Franciscos exotischer Chinatown. Sie gingen am Sam-Wong-Hotel vorbei, bogen dann rechts in eine enge Seitenstraße ein und gleich darauf links in eine noch engere Gasse. Abseits der relativ sauberen Hauptstraßen stapelten sich hier in den Gassen leere Kartons, und dazwischen standen offene Mülltonnen, aus denen der charakteristische süßsaure Gestank von verdorbenen Lebensmitteln strömte. In der Gasse, in der sie sich befanden, stank es besonders schlimm, die Luft war praktisch schwarz von Fliegen, und die Gebäude auf beiden Seiten waren so hoch, dass der gesamte Weg im Dämmerlicht lag.
»Mir wird gleich schlecht«, murmelte Sophie. Erst am Tag zuvor hatte sie zu ihrem Zwillingsbruder gesagt, dass die Arbeit im Café in den vergangenen Wochen ihren Geruchssinn geschärft hatte. Sie hatte sich damit gerühmt, Gerüche unterscheiden zu können, die sie früher nicht einmal wahrgenommen hatte. Jetzt war das ganz entschieden ein Nachteil. In der Luft lag der ranzige Geruch nach verfaultem Obst und Fisch.
Josh nickte nur. Er konzentrierte sich darauf, durch den Mund zu atmen, auch wenn es ihn bei der Vorstellung, dass sich die stinkende Luft auf seine Zunge legte, ekelte.
»Gleich haben wir es geschafft«, sagte Flamel. Der Gestank schien ihm nichts auszumachen.
Die Zwillinge hörten ein Rascheln, drehten sich um und sahen gerade noch fünf pechschwarze Ratten über die offenen Mülltonnen huschen. Eine riesige schwarze Krähe setzte sich auf eine der vielen Leitungen, die die Gasse überspannten.
Vor einer unscheinbaren Holztür, die so schmutzig war, dass sie sich kaum von der Hauswand unterschied, blieb Nicholas Flamel unvermittelt stehen. Es gab weder eine Klinke noch ein Schlüsselloch. Flamel spreizte die Finger seiner rechten Hand, legte die Fingerspitzen an bestimmten Stellen aufs Holz und drückte. Es klickte und die Tür ging auf. Er packte Sophie und Josh, zog sie ins Dunkel und drückte die Tür hinter ihnen zu.
Nach dem Gestank in der Gasse roch es in dem Flur wunderbar: Jasmin und andere zarte, exotische Düfte lagen in der Luft. Die Zwillinge atmeten tief durch.
»Bergamotte«, verkündete Sophie, die den leichten Orangenduft erkannte. »Und Ylang-Ylang und Patschuli, glaube ich.«
»Ich bin beeindruckt«, sagte Flamel.
»Im Café habe ich die Aromen zu unterscheiden gelernt. Ich mochte den Duft der exotischen Teesorten.« Sie hielt inne, weil ihr
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