Nicholas Flame Bd. 1 Der Unsterbliche Alchemyst
plötzlich auffiel, dass sie redete, als würde sie nie mehr in den Laden zurückgehen. Gerade jetzt setzte dort der erste Ansturm der Nachmittagsgäste ein, die Cappuccino und Cafè Latte bestellten, Eistee und Kräutertee. Sie blinzelte die Tränen weg, die ihr plötzlich in den Augen brannten. Sie sehnte sich nach der »Kaffeetasse«, weil sie so gewöhnlich und normal war.
»Wo sind wir hier?«, fragte Josh, der sich, nachdem seine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, umschaute.
Sie standen in einem langen, schmalen, blitzsauberen Flur. An den Wänden war glattes, helles Holz und auf dem Boden lagen kunstvoll gewebte weiße Schilfmatten. Am Ende des Korridors war eine schlichte, offenbar tapezierte Tür. Josh wollte einen Schritt darauf zu machen, als Flamels Hand sich in seine Schulter krallte.
»Nicht bewegen«, murmelte er. »Warten. Beobachten. Wahrnehmen. Wenn du dir diese drei Worte merkst, hast du vielleicht eine Chance, die nächsten Tage zu überleben.« Flamel griff in seine Tasche und zog eine Münze heraus, legte sie auf seinen Daumen und schnippte sie in die Luft. Sie drehte sich ein paar Mal, dann begann sie zu fallen …
Etwas zischte und ein nadelspitzer Pfeil bohrte sich durch die Münze, spießte sie in der Luft auf und pinnte sie an die Wand.
»Ihr habt die sichere und geregelte Welt, die ihr bisher kanntet, verlassen«, sagte Nicholas Flamel ernst und schaute die Zwillinge an. »Nichts ist mehr, wie es scheint. Ihr müsst lernen, alles infrage zu stellen. Zu warten, bevor ihr euch bewegt, zu schauen, bevor ihr einen Schritt macht, und alles genau zu beobachten. Ich habe diese Lektionen in der Alchemie gelernt. Ihr werdet feststellen, dass sie für euch in dieser Welt, in die ihr ohne es zu wollen hineingeraten seid, von unschätzbarem Wert sein werden.« Er wies auf den Flur. »Schaut hin und beobachtet genau. Und dann sagt mir: Was seht ihr?«
Josh entdeckte das erste, winzige Loch in der Wand. Es war so getarnt, dass es aussah wie ein Astloch. Nachdem er das erste gesehen hatte, fielen ihm noch Dutzende weitere Löcher in den Wänden auf. Ob hinter jedem Loch ein kleiner Pfeil saß, der Metall durchbohren konnte?
Sophie fiel auf, dass Wand und Boden nicht genau aneinanderstießen. An drei Stellen – sowohl auf der linken als auch auf der rechten Seite – war nahe der Fußleiste ein sichtbarer Spalt.
Flamel nickte. »Gut. Und jetzt schaut her. Wir haben gesehen, was die Pfeile können, aber es gibt noch eine andere Gefahr…« Er zog ein Taschentuch aus der Tasche und warf es neben einen der schmalen Schlitze in der Wand. Ein metallisches Klicken war zu hören, dann stieß eine große, halbmondförmige Klinge aus der Wand, zerschnitt das Taschentuch zu Konfetti und verschwand wieder.
»Wenn dich die Pfeile verfehlen…«, begann Josh.
»… erwischen dich die Klingen«, vollendete Sophie den Satz. »Und wie kommen wir dann zur Tür?«
»Gar nicht«, erwiderte Flamel, drehte sich um und drückte auf die Wand zu seiner Linken. Mit einem Klicken öffnete sich ein ganzer Wandabschnitt und schwang zurück, sodass sie einen großen, luftigen Raum betreten konnten.
Die Zwillinge wussten sofort, wo sie sich befanden: in einem Dojo, einer Kampfsportschule. Schon als Kinder hatten sie in Dojangs wie diesen überall in den Staaten Taekwondo gelernt, während sie mit ihren Eltern von einer Universität zur anderen zogen. Viele Schulen hatten eigene Kampfsportclubs auf dem Gelände, und ihre Eltern hatten sie immer im besten Dojo angemeldet, den sie nur ausfindig machen konnten. Sowohl Sophie als auch Josh hatten den roten Gürtel, eine Stufe unter dem schwarzen.
Im Gegensatz zu den anderen Dojos war dieser hier kahl und ohne jeden Schmuck. Er war ganz in Weiß und Cremetönen gehalten, mit weißen Wänden und schwarzen Matten auf dem Boden. Sophies und Joshs Blicke wurden jedoch sofort auf die Gestalt in weißem T-Shirt und weißen Jeans gelenkt, die mit dem Rücken zu ihnen ganz allein in der Mitte des Raumes saß. Ihr kurz geschorenes, leuchtend rotes Haar war der einzige Farbtupfer im gesamten Dojo.
»Wir haben ein Problem«, sagte Nicholas Flamel ohne Umschweife zu der Gestalt.
» Du hast ein Problem. Ich habe damit nichts zu tun.« Die Gestalt drehte sich nicht um, doch die Stimme war überraschenderweise die einer Frau, und sie klang auch noch jung und hatte einen leichten Akzent, irisch oder schottisch, vermutete Sophie.
»Dee hat mich heute entdeckt.«
»Das war nur
Weitere Kostenlose Bücher