Nicholas Flame Bd. 1 Der Unsterbliche Alchemyst
um ihre Mutter oder Großmutter handeln musste. Die Frau, die vor ihnen stand, war zwar auch groß, ging aber gebückt und stützte sich auf einen kunstvoll geschnitzten schwarzen Stock, der mindestens so lang war wie Sophie groß. Das Gesicht der alten Frau schien nur noch aus feinen Fältchen zu bestehen, ihre Augen lagen tief in den Höhlen und glitzerten merkwürdig gelb. Sie war vollkommen kahl, sodass Sophie ein Tattoo mit den verschlungenen Linien auf ihrem Schädel erkennen konnte. Obwohl sie ein ähnliches Kleid trug wie Hekate vorher, schimmerte der metallisch wirkende Stoff jetzt bei jeder Bewegung rot und schwarz.
Sophie blinzelte, schloss die Augen und blinzelte wieder. Sie sah die Andeutung einer Aura. Es war, als dünste die Frau einen feinen weißen Nebel aus. Beim Gehen ließ sie kleine weiße Nebelschwaden hinter sich.
Ohne sich um die Anwesenden zu kümmern, ließ die alte Frau sich auf dem Stuhl direkt gegenüber von Nicholas Flamel nieder. Erst als sie saß, nahmen auch Flamel und Scathach ihre Plätze wieder ein. Sophie und Josh setzten sich ebenfalls, schauten von Nicholas zu der alten Frau und fragten sich, wer sie war und was sie hier gerade wieder erlebten.
Die Frau nahm einen der hölzernen Kelche vom Tisch, trank aber nicht. In dem Baumstamm hinter ihr bewegte sich etwas, und vier große, kräftige junge Männer erschienen mit Tabletts, die über und über mit Speisen beladen waren. Sie stellten sie auf dem Tisch ab und zogen sich dann schweigend zurück. Die Männer sahen sich so ähnlich, dass sie verwandt sein mussten, doch mit ihren Gesichtern stimmte etwas nicht. Die Stirn fiel schräg ab bis zu einem Wulst über den Augen, die Nase war kurz und breit, die Wangenknochen waren stark ausgeprägt und sie hatten ein fliehendes Kinn. Hinter schmalen Lippen waren gelbliche Zähne zu erkennen. Die Männer waren barfuß und mit bloßem Oberkörper erschienen. Sie trugen lediglich einen Lendenschurz aus Leder, auf den rechteckige Metallplättchen aufgenäht waren. Sie hatten krauses rotes Haar und auch Brust und Beine waren rot behaart.
Als Sophie merkte, dass sie sie anstarrte, wandte sie sich rasch ab. Die Männer sahen aus, als kämen sie aus einer fernen Urzeit … Und doch war da noch etwas anderes. Erneut wurde Sophies Blick von ihnen angezogen; sie konnte gar nicht anders, als die Männer anzuschauen. Dann fiel ihr auf, dass sie blaue Augen hatten, leuchtend blaue Augen, und dass in ihrem Blick eine überwältigende Intelligenz lag.
»Sie sind Torc Allta«, platzte Sophie heraus und zuckte zusammen, als ihr klar wurde, dass alle sie anstarrten. Sie hatte das gar nicht laut sagen wollen.
Josh, der argwöhnisch etwas beäugte, das er aus einer großen Schüssel mit Eintopf gegabelt hatte und das wie ein Stück Fisch aussah, schaute den Männern nach. »Hab ich gesehen«, sagte er cool.
Sie trat ihm unter dem Tisch gegen das Schienbein. »Das stimmt doch überhaupt nicht«, flüsterte sie. »Du warst doch viel zu sehr mit deinem Essen beschäftigt.«
»Ich habe Hunger!« Er beugte sich zu seiner Schwester hinüber. »Aber ich hab’s an den roten Haaren und der Schweinenase erkannt«, sagte er leise. »Du doch auch, oder?«
»Es wäre ein Fehler, sie das hören zu lassen«, unterbrach Nicholas Flamel sie. »Genauso wäre es ein Fehler, nach dem Äußeren zu urteilen oder überhaupt Kommentare zu dem abzugeben, was ihr hier seht. In dieser Zeit und an diesem Ort gelten andere Maßstäbe und Kriterien. Hier können Worte zu Waffen werden…«
»… und euch töten«, fügte Scathach gelassen hinzu. Sie hatte sich den Teller mit verschiedenem Gemüse vollgeladen, von dem die Zwillinge nur einige wenige Sorten erkannten. Sie nickte in Richtung Baum. »Aber ihr habt recht, es sind Torc Allta in ihrer menschlichen Gestalt. Wahrscheinlich die besten Krieger aller Zeiten.«
»Sie werden euch begleiten, wenn ihr diesen Ort wieder verlasst«, sagte die alte Frau plötzlich. Dafür, dass die Stimme aus einem so zerbrechlich wirkenden Körper kam, war sie erstaunlich kräftig.
Flamel deutete eine Verbeugung an. »Es wird uns eine Ehre sein.«
»Ihr braucht euch nicht geehrt zu fühlen«, gab die alte Frau zurück. »Sie begleiten euch nicht allein zu eurem Schutz; sie sollen sicherstellen, dass ihr mein Reich auch wirklich verlasst.« Sie legte die schmalgliedrigen Hände auf den Tisch, und Sophie sah erst jetzt, dass jeder Fingernagel in einer anderen Farbe bemalt war. Seltsamerweise
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