Nicholas Flame Bd. 1 Der Unsterbliche Alchemyst
konzentrierte sich ganz auf Nicholas und sah ihn mit ihrem geistigen Auge deutlich vor sich: das schmale, eher melancholische Gesicht, die hellen Augen und das kurz geschnittene Haar. Sie lächelte, weil sie an früher denken musste, als er das dichte schwarze Haar länger getragen hatte als sie. Im Nacken hatte er es immer mit einem purpurfarbenen Samtband zusammengehalten. Sie atmete aus und sofort erschien in der weißen Wolke wieder Jefferson Millers Gesicht. Perenelle schaute dem Geist in die Augen und wie in einem Spiegel sah sie in seinen Pupillen ihren Mann in den Pfoten der katzenköpfigen Göttin.
Wut und Angst überfluteten sie und plötzlich waren ihre Kopfschmerzen und ihre Erschöpfung wie weggeblasen. Ihr mit Silberfäden durchzogenes schwarzes Haar bewegte sich, als wehte ein kräftiger Wind, blaue und weiße Funken sprühten heraus, und es knisterte vor statischer Energie. Ihre schneeweiße Aura umgab sie wie eine zweite Haut.
Zu spät erkannten die Wachen, dass etwas nicht stimmte. Sie wollten sie packen, doch in dem Moment, in dem ihre Hände die leuchtenden Ränder von Perenelles Aura berührten, wurden sie zurückgestoßen, als hätten sie einen elektrischen Schlag erhalten. Einer der Wachen wollte sich auf die Gefangene werfen, doch Perenelles Aura katapultierte ihn knapp unter der Decke an die Wand, und das mit solcher Wucht, dass ihm der Motorradhelm vom Kopf flog. Er rutschte an der Wand herunter, Arme und Beine seltsam verdreht. Als Perenelle sein Gesicht sah, wusste sie, dass es sich tatsächlich um einen Simulacra handelte. Allerdings um einen unfertigen: der Kopf war eine einzige kahle und glatte Fläche, ohne Augen, Nase, Mund und Ohren.
Perenelle lief den Gang hinunter. Als sie auf dem Boden eine ölig aussehende Pfütze erblickte, blieb sie kurz stehen, kauerte sich hin, konzentrierte sich und tauchte ihren Zeigefinger und den kleinen Finger in das trübe Wasser. Ihre weiße Aura zischte und von dem Wasser stieg Rauch auf. Nachdem er sich verzogen hatte, stellte sie fest, dass sie dieselbe Szene vor sich hatte, die sie kurz in den Augen des Geistes gesehen hatte: Ihr Mann lag unter Bastets Krallen. Dahinter wehrte Scatty die angreifenden Katzen und Vögel ab, während Josh mit dem Rücken zu einem Baum stand, einen Ast wie einen Baseballschläger in der Hand hielt und unbeholfen nach allem schlug, das ihm zu nah kam. Vor ihm auf dem Boden lag Sophie und blinzelte verwirrt.
Perenelle schaute den Gang hinauf und hinunter. In der Ferne hörte sie Geräusche, Schritte auf Steinboden, und sie wusste, dass weitere Wachen im Anmarsch waren. Sie konnte entweder weiterlaufen und sich verstecken oder sich den Wachen stellen. Etwas von ihrer Kraft war zurückgekehrt. Aber das half Nicholas und den Zwillingen nicht.
Perenelle schaute noch einmal in die Pfütze. Sie sah Hekate, die dem gemeinsamen Angriff der Vögel und Katzen standhielt, und hinter ihr Dee. Das Schwert in seiner Hand glühte giftig blau. Im Hintergrund brannte der Weltenbaum. Rote und grüne Flammen loderten hoch aus ihm auf.
Eine Möglichkeit gab es noch – einen verzweifelten, gefährlichen Versuch konnte sie wagen. Falls er gelang, wäre sie anschließend völlig entkräftet und wehrlos. Dees Kreaturen bräuchten sie nur aufzuheben und wegzutragen.
Perenelle überlegte es sich nicht zweimal.
Über die ölige Pfütze gebeugt, legte sie die rechte Hand mit der Handfläche nach oben in die linke und konzentrierte sich. In ihre Aura kam Bewegung, wie Nebelschwaden strich sie an ihren Armen hinunter und sammelte sich in ihrer Hand, floss durch die eingekerbten feinen Linien in ihrer Haut und ließ einen winzigen, silbrig weißen Funken aufblitzen. Er verdichtete sich zu einer Kugel, wuchs und drehte sich, und der Aura-Nebel floss schneller die Arme herunter. Es dauerte nur wenige Herzschläge lang, dann hatte die Kugel die Größe eines Eis erreicht. Perenelle drehte die Hand und warf den Ball aus reiner Aura-Energie ins Wasser der Pfütze. Dazu sprach sie drei Worte:
»Sophie, wach auf!«
KAPITEL ACHTUNDZWANZIG
S ophie, wach auf!« Sophie Newman schlug die Augen auf. Und schloss sie gleich wieder. Sie presste die Hände auf die Ohren. Alles war so hell, die Farben so leuchtend, der Schlachtenlärm so laut und durchdringend.
»Sophie, wach auf!«
Der Schock, als sie die Stimme noch einmal hörte, zwang sie, die Augen erneut zu öffnen und sich umzuschauen. Sie hörte Perenelle Flamel so deutlich, als stünde sie neben
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