Nicholas Flamel Bd. 2 Der dunkle Magier
drin.«
»Du gehst als Nächste, Sophie«, bestimmte Flamel. »Ich komme dir nach. Johanna, machst du die Nachhut?«
Johanna nickte. Sie packte die Lehne einer hölzernen Parkbank und zog sie über das Wiesenstück. »Die stelle ich über das Loch, bevor ich hinuntersteige. Wir wollen schließlich keinen un erwarteten Besuch, oder?« Sie lächelte.
Sophie zögerte kurz, dann tastete sie nach den Leitersprossen und kletterte vorsichtig in den Schacht. Sie hatte mit einem modrigen, ekligen Gestank gerechnet, doch es roch nur vertrocknet und etwas muffig. Sie begann, die Sprossen zu zählen, hörte aber irgendwo bei siebzig auf, weil sie durcheinandergekommen war. An dem schnell kleiner werdenden Himmelsviereck über ihrem Kopf erkannte sie jedoch, dass es weit hinunter ging. Angst hatte sie keine – zumindest nicht um sich selbst. Tunnel und geschlossene Räume bedeuteten nichts Schlimmes für sie, aber ihr Bruder geriet in Panik. Wie es ihm jetzt wohl ging? Sie spürte ein Flattern im Bauch und plötzlich war ihr schlecht. Ihr Mund wurde trocken, und sie wusste – instinktiv und ohne jeden Zweifel –, dass es die Empfindungen ihres Bruders in diesem Moment waren. Sie wusste, dass Josh panische Angst hatte.
K APITEL A CHTUNDVIERZIG
K nochen«, stellte Josh benommen fest, als er den Blick durch den Tunnel gleiten ließ.
Die Wand direkt vor ihm bestand aus Hunderten gelblich verfärbter und weiß gebleichter Schädel. Dee ging den Gang hinunter und seine Lichtkugel ließ die Schatten tanzen und zucken, sodass es so aussah, als bewegten sich Augen in den leeren Höhlen und folgten ihm.
Josh war mit Knochen groß geworden und sie flößten ihm eigentlich keine Angst ein. Im Arbeitszimmer seines Vaters standen jede Menge Skelette herum. Als Kinder hatten er und Sophie in den Lagerräumen von Museen mit den dort aufbewahrten Knochenfunden gespielt, aber es waren Tier- und Dino saurierknochen gewesen. Josh hatte sogar mitgeholfen, die Schwanzknochen eines Raptors zusammenzusetzen, der dann in New York im Naturkundemuseum ausgestellt worden war. Aber diese Knochen hier … Das waren … Das waren …
»Sind das alles Menschenknochen?«, fragte er im Flüsterton.
»Ja«, erwiderte Machiavelli genauso leise. »Hier unten befinden sich die sterblichen Überreste von mindestens sechs Millionen Menschen. Vielleicht noch mehr. Ursprünglich waren die Katakomben riesige Kalksteinbrüche.« Er wies mit dem Daumen nach oben. »Derselbe Kalkstein, aus dem die Stadt gebaut wurde. Paris wurde über einem Labyrinth aus Tunneln errichtet.«
»Wie sind die Knochen hier heruntergekommen?« Joshs Stimme zitterte. Er hüstelte, schlang die Arme um den Körper und versuchte auszusehen, als würde ihm das alles nichts ausmachen. »Sie sehen uralt aus. Wie lange liegen sie schon hier?«
»Nur rund zweihundert Jahre«, erwiderte Machiavelli. Josh war überrascht. »Ende des achtzehnten Jahrhunderts quollen die Friedhöfe von Paris über. Ich habe damals hier gelebt«, fügte er hinzu und verzog angewidert das Gesicht. »So etwas hatte ich noch nie gesehen. Es gab so viele Tote in der Stadt, dass die Friedhöfe oft nur riesige, aufgehäufte Erdhügel waren, aus de nen Knochen herausstanden. Mag sein, dass Paris schon damals eine der schönsten Städte der Erde war, aber es war auch eine der dreckigsten. Schlimmer noch als London – und das will etwas heißen!« Er lachte und das Lachen wurde als vielfaches Echo von den Knochenwänden zurückgeworfen. »Der Gestank war unvorstellbar und die Ratten waren ungelogen so groß wie kleine Hunde. Krankheiten gingen um und immer wie der brach die Pest aus. Schließlich hat man erkannt, dass die überfüllten Friedhöfe etwas mit dem Ausbruch von Krankheiten zu tun haben mussten, und man hat beschlossen, die Friedhöfe zu leeren und die Knochen hier herunterzuschaffen in die aufgegebenen Steinbrüche.«
Josh versuchte, nicht daran zu denken, dass er umgeben war von den Knochen von Menschen, die höchstwahrscheinlich an einer schrecklichen Krankheit gestorben waren, und betrachtete stattdessen die Wände genauer. »Wer hat die Muster gelegt?«, fragte er und zeigte auf ein kunstvoll ausgestaltetes Sonnenmotiv. Die Sonnenstrahlen bestanden aus unterschiedlich langen Knochen.
Machiavelli zuckte mit den Schultern. »Wer weiß? Vielleicht jemand, der die Toten dadurch ehren wollte. Jemand, der versucht hat, Ordnung in das unglaubliche Chaos zu bringen. Die Menschen sind immer bestrebt, Chaos in
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