Nicholas Flamel Bd. 2 Der dunkle Magier
irgendetwas hinter ihm gerichtet hatte. Josh wirbelte herum … im selben Moment, als zwei albtraumhafte Kreaturen aus der Dunkelheit auftauchten.
Alles an ihnen war weiß, von der fast transparenten Haut bis zu den langen, feinen Haaren, die bis auf den Boden herabhingen. Unmöglich zu sagen, ob sie männlich oder weiblich waren. Sie hatten die Größe von vier- oder fünfjährigen Kindern, waren unnatürlich dünn, hatten aber übergroße Köpfe mit einer breiten Stirn und spitzem Kinn. Oben aus dem Kopf wuchsen lange Ohren und kleine Hörnchen. Riesige runde Augen ohne Pupillen waren auf Josh gerichtet, und als die Wesen auf ihn zukamen, sah er, dass mit ihren Beinen etwas nicht stimmte. Die Oberschenkel waren nach hinten gebogen, die Unterschenkel wiesen vom Knie aus nach vorn und statt Füße hatten sie ziegenähnliche Hufe.
An dem Steinsockel trennten sie sich, eines kam rechts herum, das andere links, und instinktiv wollte Josh zurückweichen. Da fiel ihm Machiavellis Rat ein und er blieb stehen. Er holte tief Luft, und als er das Wesen, das ihm am nächsten war, genauer betrachtete, stellte er fest, dass es auf den zweiten Blick gar nicht so furchterregend war. Der kleine Körper wirkte fast zerbrechlich, und Josh glaubte plötzlich zu wissen, worum es sich handelte. Auf den Regalen im Arbeitszimmer seiner Mutter hatte er auf griechischen und römischen Tonscherben Abbil dungen von solchen Wesen gesehen. Es waren Faune oder vielleicht auch Satyrn – er war sich nicht sicher, worin der Unterschied bestand.
Die Kreaturen gingen langsam um Josh herum und griffen mit eiskalten Händen nach ihm. Sie strichen mit langen Fingern, deren Nägel schwarze Schmutzränder aufwiesen, über sein zerrissenes T-Shirt und prüften den Stoff seiner Jeans. Sie redeten miteinander, mit leisen, sehr hohen Zwitscherstimmen, die Josh eine Gänsehaut verursachten. Als ein eiskalter Finger die Haut an seinem Bauch berührte, knisterte seine Aura und sprühte goldene Funken. »He!«, rief er. Die Wesen sprangen zu rück, doch diese eine Berührung genügte, um Joshs Herz wie verrückt schlagen zu lassen. Augenblicklich packten ihn sämtliche namenlosen Schrecken, die er sich jemals vorgestellt hatte, und seine schlimmsten Albträume stiegen in ihm auf. Er keuchte und zitterte und eiskalter Schweiß brach ihm aus allen Poren. Der zweite Faun sprang auf ihn zu und legte ihm eine kalte Hand auf die Stirn. Joshs Herz geriet aus dem Takt und er hatte plötzlich unsägliche Magenschmerzen.
Die beiden Kreaturen fassten sich an den Händen und hüpfen auf und ab und schüttelten sich vor Lachen – etwas anderes konnte es nicht sein.
»Josh.« Machiavellis gebieterische Stimme durchbrach die Panik des Jungen und ließ die Kreaturen verstummen. »Josh, hör mir zu. Hör auf meine Stimme, konzentriere dich darauf! Satyrn sind einfache Wesen, die von den primitivsten Gefüh len der Menschen leben. Der eine kann nicht genug kriegen von Angst, der andere hat seine größte Freude an Panik. Die beiden heißen Phobos und Deimos.«
Als sie ihre Namen hörten, wichen die beiden zurück, verschmolzen mit der Dunkelheit, sodass nur noch die riesigen, wässrigen Augen zu sehen waren, schwarz und glänzend im Licht der schwebenden Kugel.
»Sie sind die Wächter des Schlafenden Gottes.«
In diesem Moment setzte sich die Statue unter dem Knirschen jahrhundertealter Steine auf, drehte den Kopf und schaute Josh an. In dem Helm glühten zwei blutrote Augen.
K APITEL N EUNUNDVIERZIG
I st das ein Schattenreich?«, flüsterte Sophie entsetzt. Die Vorstellung schnürte ihr fast die Luft ab.
Sie standen am Eingang zu einem langen, geraden Tunnel, dessen Wände mit etwas ausgekleidet waren, das aussah wie Menschenknochen. Eine einzelne schwache Glühbirne beleuchtete den Gang mit ihrem matten gelben Licht.
Johanna drückte ihren Arm und lachte leise. »Nein, wir sind immer noch in der wirklichen Welt. Willkommen in den Katakomben von Paris.«
Sophies Augen flackerten silbern, als die Erinnerungen der Hexe sie durchströmten. Die Hexe von Endor kannte diese Katakomben gut. Sophie wippte auf den Absätzen vor und zurück, als eine ganze Reihe von Bildern an ihrem geistigen Auge vorbeizog: In Lumpen gekleidete Männer und Frauen brachen Steine aus riesigen Gruben, beaufsichtigt von Wachen in der Uniform römischer Befehlshaber. »Das waren einmal Steinbrüche«, flüsterte sie.
»Vor langer Zeit«, bestätigte Flamel. »Und jetzt ist es das Grab von
Weitere Kostenlose Bücher