Nicholas Flamel Bd. 2 Der dunkle Magier
würde.
»Oder gar nicht«, sagte Machiavelli nur.
Sie bogen wieder um eine Kurve und vor ihnen lag ein langes, pfeilgerades Tunnelstück. Die Wände hier waren mit noch kunstvolleren Knochenmustern ausgeschmückt, aber es waren seltsam eckige Ornamente, die Josh zu erkennen glaubte. Sie glichen Zeichnungen, die er im Arbeitszimmer seines Vaters gesehen hatte, und ähnelten den Bildzeichen der Maya oder Azteken. Aber was hatten mittelamerikanische Symbole in den Katakomben von Paris verloren?
Dee wartete am Ende des Tunnels auf sie. Seine grauen Augen glitzerten im Licht der Kugel, das seiner Haut einen ungesunden Schimmer verlieh. Als er sprach, war sein englischer Akzent deutlicher als sonst herauszuhören, und er redete so schnell, dass man kaum verstand, was er sagte. Josh konnte nicht sagen, ob hinter der Aufgeregtheit des Magiers Freude steckte oder Nervosität, und das machte ihm noch mehr Angst.
»Dies ist ein bedeutsamer Tag für dich, mein Junge, ein bedeutsamer Tag. Nicht nur, weil deine Kräfte geweckt werden, sondern auch, weil du einen der wenigen Älteren kennenlernen wirst, an den sich die Menschheit noch erinnert. Es ist eine große Ehre.« Er klatschte in die Hände, dann zog er den Kopf ein und hob den Arm, worauf die Lichtkugel ein Stück nach oben stieg, sodass zwei hohe, aus Knochen zusammengesetzte Säulen sichtbar wurden, die unter der Decke zu einem Bogen zusammenliefen und den Türrahmen bildeten. Hinter der Öffnung war es stockfinster. Dee trat einen Schritt zurück. »Du zuerst.«
Als Josh zögerte, drückte Machiavelli fest seinen Arm und flüsterte eindringlich: »Egal was passiert, du darfst keine Angst zeigen und musst versuchen, deine Panik zu bezwingen. Dein Leben hängt davon ab, ob du deinen Verstand behältst oder nicht. Hast du mich verstanden?«
»Keine Angst, keine Panik«, wiederholte Josh. Er begann schon wieder, übermäßig schnell zu atmen. »Keine Angst, keine Panik.«
»Geh jetzt.« Machiavelli ließ seinen Arm los und schob ihn vorwärts, auf Dee und den knöchernen Türrahmen zu. »Lass dir deine Kräfte wecken«, sagte er. »Ich hoffe, es ist die Sache wert.«
Etwas in Machiavellis Stimme veranlasste Josh, sich noch einmal umzuschauen. Auf dem Gesicht des Italieners stand fast so etwas wie Mitleid und Josh blieb stehen. Dee sah ihn an, die grauen Augen glitzerten und die Lippen waren zu einem häss lichen Lächeln verzerrt. Er hob eine Augenbraue. »Willst du nicht, dass deine Kräfte geweckt werden?«
Darauf wusste Josh beim besten Willen keine Antwort. Er blickte noch einmal zu Machiavelli, hob zum Abschied halb die Hand und trat dann durch den Türbogen in die pechschwarze Finsternis.
Als Dee ihm folgte, wurde es hell, und Josh sah, dass er in einer großen, kreisrunden Kammer stand, die aus einem einzigen, riesigen Knochen herausgeschnitzt schien – die gleichmäßig gebogenen Wände, die polierte gelbe Decke, selbst der pergamentfarbene Boden schienen aus einem Stück zu sein.
Dee legte dem Jungen eine Hand auf den Rücken und schob ihn vorwärts. Josh machte zwei Schritte, dann blieb er wieder stehen. Die vergangenen Tage hatten ihn gelehrt, jederzeit mit Überraschungen zu rechnen – mit Wundern, Fabelwesen und Ungeheuern –, aber das hier … das war … enttäuschend.
Die Kammer war leer bis auf einen schmalen rechteckigen Steinsockel in der Mitte. Dees Lichtkugel tanzte darüber weg und beleuchtete mit ihrem grellen Licht jedes eingeritzte Detail.
Auf der körnigen Sandsteinplatte lag die übergroße Statue eines Mannes in einer offenbar sehr alten Rüstung, die Hände in den Panzerhandschuhen um das klobige Heft eines Breitschwerts gelegt, das fast zwei Meter lang war. Als Josh sich auf die Zehenspitzen stellte, sah er, dass das Gesicht der Statue vollständig unter einem Helm verborgen war.
Josh schaute sich um. Dee stand rechts vom Eingang, und Machiavelli, der ebenfalls hereingekommen war, hatte sich auf die linke Seite gestellt. Beide beobachteten ihn ganz genau. »Was passiert jetzt?«, fragte Josh und seine Stimme klang in der Kammer hohl und gedämpft.
Keiner der Männer antwortete. Machiavelli verschränkte die Arme, neigte den Kopf leicht auf eine Seite und kniff die Augen zusammen.
»Wer ist das?« Josh wies mit dem Daumen auf die Statue. Dass Dee ihm eine Antwort geben würde, erwartete er schon gar nicht mehr, doch als er Machiavelli ansah, merkte er, dass auch dieser ihn nicht länger beachtete, sondern den Blick auf
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