Nicholas Flamel Bd. 3 Die mächtige Zauberin
Bruder an. Der zuckte mit den Schultern, die Augen hinter den dunklen Gläsern der Sonnenbrille verborgen. Sophie drehte ihre rechte Hand um. Auf der Unterseite ihres Handgelenks war ein goldener Kreis mit einem roten Punkt in der Mitte. Saint-Germain hatte ihr das Tattoo schmerzlos in die Haut gebrannt, als er sie in der Magie des Feuers unterrichtet hatte. Und während sie an ihn dachte, überströmte sie plötzlich eine Flut von Erinnerungen, ungeheuer intensive, spürbare Erinnerungen. Sophie schloss die Augen und im nächsten Augenblick war sie in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort.
London, 1740.
Sie stand in einem riesigen Ballsaal und trug ein Kleid, das so schwer war, dass sie das Gefühl hatte, es würde sie in den Boden drücken. Es war schrecklich unbequem, kniff und zwickte überall, schnürte ein und drückte ab. Die Luft im Ballsaal stank nach Kerzenwachs und zu vielen Parfüms, nach verstopften Toiletten, gekochtem Essen und ungewaschenen Körpern. Eine Menge Menschen wirbelten um sie herum, doch als sie sich in Bewegung setzte, gingen sie ihr unbewusst aus dem Weg, sodass eine Gasse entstand von ihr zu dem dunkel gekleideten jungen Mann mit den auffallend blauen Augen. Es war Francis, der Graf von Saint-Germain. Er unterhielt sich auf Russisch mit einem Adligen vom Hof des erst ein paar Monate alten Zaren Iwan VI. Sie stellte fest, dass sie verstand, was gesprochen wurde. Der Adlige machte Andeutungen, dass Elisabeth, die jüngste Tochter von Peter dem Großen, bald die Macht an sich reißen könnte, und dass es für einen Mann mit Saint-Germains Fähigkeiten in St. Petersburg viele Möglichkeiten gäbe, Geschäfte zu machen. Der Graf drehte sich langsam um und sah sie an, während sie näher kam. Als sie zu ihm getreten war, nahm er ihre Hand, beugte sich darüber und sagte auf Italienisch: »Es ist mir eine Ehre, Sie endlich kennenzulernen, Signora.«
Sophie öffnete mit einem Ruck die Augen. Sie schwankte und Josh hielt sie rasch fest. »Was war das denn?«, wollte er wissen.
»Ich war da …«, flüsterte Sophie. »Hier in London, meine ich. Vor über zweihundertundfünfzig Jahren. Ich habe alles gesehen.« Sie drückte seinen Arm. »Ich habe das Kleid gespürt, das ich getragen habe, den Gestank in dem Saal gerochen, und als Saint-Germain russisch gesprochen hat, habe ich ihn verstanden, und als er mit mir dann italienisch gesprochen hat, habe ich auch das verstanden. Ich war da«, wiederholte sie, noch immer überwältigt von ihren neu hinzugekommenen Erinnerungen.
»Die Erinnerungen der Hexe von Endor werden zu deinen Erinnerungen«, sagte Flamel. »Ihr Wissen wird zu deinem. Irgendwann weißt du alles, was sie weiß.«
Sophie Newman fror plötzlich. Dann fiel ihr etwas Beunruhigendes ein. »Aber was passiert dabei mit mir?«, fragte sie.
»Die Hexe hat Erinnerungen und Erfahrungen von mehreren tausend Jahren. Ich bin erst fünfzehneinhalb und erinnere mich nicht mehr an alles, was ich in der Zeit erlebt habe. Kann es so weit kommen, dass ihre Erinnerungen meine verdrängen?«
Flamel blinzelte. Dann nickte er bedächtig. »Daran habe ich nicht gedacht, aber ja, du hast recht, dazu könnte es kommen«, antwortete er sehr leise. »Wir müssen unbedingt dafür sorgen, dass das nicht passiert.«
»Warum?«, fragten die Zwillinge wie aus einem Mund.
Flamel kam die Stufen herunter und stellte sich neben sie. »Weil wir nichts anderes sind als die Summe unserer Erinnerungen und Erfahrungen. Wenn die Erinnerungen der Hexe deine verdrängen, wirst du irgendwann zur Hexe von Endor werden.«
Josh war entsetzt. »Und was wird dann aus Sophie?«
»Wenn das passiert, wird es keine Sophie mehr geben. Nur noch die Hexe.«
»Dann hat sie es mit voller Absicht getan.« In seinem Zorn hatte Josh die Stimme erhoben, und eine Gruppe Touristen, die die Kirchenuhr fotografierten, schaute herüber. Sophie stieß ihn an, und er redete in einem heiseren Flüsterton weiter: »Deshalb hat sie Sophie ihr ganzes Wissen gegeben!« Flamel schüttelte den Kopf, aber Josh fuhr fort: »Sobald ihre Erinnerungen vollständig von Sophie Besitz ergriffen haben, hat sie einen neuen, jüngeren Körper statt ihres alten. Und blind ist sie dann auch nicht mehr. Das kannst du nicht leugnen.«
Flamel wandte sich ab. »Ich muss … Ich muss darüber nachdenken«, sagte er. »Ich habe noch nie gehört, dass so etwas jemals passiert ist.«
»Aber du hast auch noch nie gehört, dass die Hexe ihr gesamtes Wissen auf
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