Nicholas Flamel Bd. 3 Die mächtige Zauberin
wieder einen Rückzieher. Trotz ihres furchterregenden Äußeren und ihres schrecklichen Rufes war die Sphinx ein Feigling. Sie war in einer Zeit voller Ungeheuer aufgewachsen und Angst und Feigheit hatten sie über die Jahrtausende am Leben erhalten.
Die Zauberin sah die Kreatur an und legte die Hände flach aufeinander, Daumen auf Daumen, Finger auf Finger. Plötzlich sandte ihre Aura weißes Licht aus, das dem gesamten Korridor die Farbe entzog. Dann legte es sich knisternd als schützendes Oval aus stark reflektierenden, spiegelähnlichen Kristallen um ihren Körper. Perenelle sah alles bis ins kleinste Detail: jeden einzelnen von der Feuchtigkeit angegriffenen Backstein, jedes verbogene Rohr, die fleckige Decke, die zerrissenen Spinnweben und die rostigen Eisenstäbe der Zellentür. Lange, kantige Schatten schoben sich den Flur hinunter auf die Sphinx zu, obwohl Perenelle selbst keinen Schatten warf.
Perenelle streckte mit Schwung die rechte Hand aus. Eine weiße Lichtkugel, die fast wie ein Schneeball aussah, löste sich von ihrer Handfläche, prallte einmal, zweimal, dreimal vom Boden ab und rollte dann zwischen die dreckigen Tatzen der Sphinx.
»Und was soll ich jetzt damit machen?«, fauchte die Bestie. »Apportieren?«
Perenelle schenkte ihr ein grausames Lächeln; ihr Haar stand als dunkle Wolke hinter ihr.
Die Kugel wuchs. Glitzernde, tanzende Eiskristalle legten sich Schicht um Schicht darauf. Die Temperatur sank plötzlich um etliche Grad und der Atem der Sphinx stand weiß in der Luft.
Die Sphinx war ein Wüstenwesen. Ihr ganzes Leben lang hatte sie in trockener Hitze und gleißendem Sonnenlicht gelebt. Sicher, seit sie zur Wärterin auf Alcatraz bestimmt worden war, hatte sie sich an die Kälte auf der Gefängnisinsel gewöhnt, an die beißende Feuchtigkeit der Nebelbänke, die von der Bucht herüberrollten, an den Regen, der wie Messerstiche herunterprasselte, an die eisigen Winde. Doch eine solche Kälte hatte sie noch nie erlebt. Sie war so intensiv, dass sie brannte. Zahllose winzige Kristalle wurden aus der gleißenden Kugel geschleudert und brannten sich wie glühende Kohlestückchen in ihre Haut ein. Eine Schneeflocke, die nicht größer war als ein Staubkorn, landete auf ihrer Zunge; es war, als lutschte sie an einer heißen Kohle. Und die Kugel wuchs immer weiter.
Perenelle kam einen Schritt näher. »Ich sollte dir danken.«
Die Sphinx wich zurück.
»Wenn ich weggelaufen wäre, hättest du mich verfolgt und eingeholt. Doch als du mich daran erinnert hast, dass ich mächtiger bin als zuvor, merkte ich erst, welches Geschenk mir mein Mann und die Zwillinge gemacht haben.«
Die Sphinx kreischte wie eine Wildkatze. Die eisige Luft biss und brannte auf ihrem Frauengesicht. »Du wirst nicht mehr lange Spaß an deinen Kräften haben. Ich sauge sie auf!«
»Du kannst es ja versuchen«, erwiderte Perenelle leise, fast freundlich. »Aber dazu musst du dich auf mich konzentrieren, und ich habe selbst schon die Erfahrung gemacht, dass es ziemlich schwierig ist, sich zu konzentrieren, wenn man friert.« Sie lächelte wieder.
»Deine Aura wird verblassen.« Die Sphinx begann, mit den nadelspitzen Zähnen zu klappern. An der Wand bildeten sich dünne Eiskringel.
»Stimmt. Ich habe noch eine Minute, vielleicht sogar weniger, bevor meine Aura wieder auf ihre normale Stärke zurückgeht. Aber das reicht.«
»Wofür?« Die Sphinx zitterte. Frost bedeckte ihre Brust und die Beine. Ihre bleichen Wangen wurden rot, die Lippen blau.
»Dafür!«
Der Schneeball hatte inzwischen die Größe eines Riesenkürbisses erreicht. Die Sphinx schlug danach und ihre gewaltige Löwenpranke fuhr in die gefrorenen Kristalle. Als sie die Tatze wieder zurückzog, waren Haut und Krallen schwarz von der eisigen Kälte.
»Diesen netten Zauber hat mir ein Schamane auf den Aleuten gezeigt«, sagte Perenelle und ging auf die Sphinx zu. Die versuchte sofort, zurückzuweichen, doch der Boden war mit einer rutschigen Eisschicht bedeckt, es riss ihr die Pfoten weg und sie landete flach auf dem Bauch. »Die Aleuten sind wahre Meister in der Schnee- und Eismagie. Es gibt viele verschiedene Arten von Schnee«, erklärt die Zauberin. »Weicher …«
Daunenweiche Schneeflocken lösten sich aus der sich drehenden Kugel, tanzten eine Weile um die Sphinx herum und landeten dann zischend auf ihrer Haut. Sie brannten sich ein und schmolzen im selben Augenblick.
»Harter …«
Eisbröckchen mit scharfen Kanten wie Schottersteine
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