Nicholas Flamel Bd. 4 Der unheimliche Geisterrufer
the Kid riss vor Schreck die Augen wieder auf und den Mund gleich dazu. Er hatte hinter der rechten Schulter des Italieners dem Älteren gegenübergestanden, doch nun trat er ganz bewusst einen Schritt zur Seite. Er war schon an genügend Schießereien beteiligt gewesen, um zu wissen, dass es keine gute Idee war, sich direkt hinter die Zielperson zu stellen.
»Und du hast viele Wesen mit einem solchen Schmuck gesehen? «, fragte Kukulkan. Sein fast lippenloser Mund war ein waagrechter Schlitz und die schwarzen Augen waren starr auf Machiavellis Gesicht gerichtet.
»Viele, sowohl in dieser Welt als auch in den Schattenreichen«, erwiderte der Italiener und fügte hinzu: »Ich hatte schon immer eine Schwäche für schöne Dinge. Seit Jahrhunderten sammle ich Antiquitäten und jahrelang zählte eine Abelam-Yam-Maske aus Papua Neuguinea zu meinen kostbarsten Stücken. Sie war mit den unvergleichlich schönen Federn des Paradiesvogels geschmückt.«
»Ein herrlicher Vogel«, bestätigte Kukulkan.
»Obwohl ich ohne Übertreibung behaupten kann, dass deine Federn noch schöner sind«, sagte Machiavelli.
»Falls ich annehmen müsste, dass du mir schmeicheln willst, würde ich dich auf der Stelle umbringen.« Kukulkans Miene veränderte sich kaum merklich.
Billy trat einen weiteren Schritt zur Seite.
»Du willst wissen, ob ich lüge?«, fragte Machiavelli.
Kukulkan neigte den Kopf zur Seite und wartete.
»Sind deine Federn schöner als das Gefieder des Paradiesvogels? «, fragte Machiavelli.
»Selbstverständlich!«, erwiderte der Ältere.
»Dann habe ich lediglich eine Tatsache ausgesprochen. Ich habe festgestellt, dass man mit der Wahrheit gewöhnlich am weitesten kommt. Dumme Menschen lügen, kluge halten sich an die Wahrheit.«
»Dein Gebieter hat gesagt, du seist … schwer zu durchschauen«, meinte Kukulkan nach einer langen Pause.
»Ich wusste nicht, dass du meinen Gebieter kennst«, erwiderte Machiavelli. »Obwohl es mich nicht überraschen sollte. Ich nehme an, die meisten Älteren kennen sich untereinander. «
»Nicht alle«, sagte Kukulkan. »Ich bin immer wieder schockiert, wenn jemand, von dem ich seit Tausenden von Jahren nichts gehört habe, plötzlich in diesem Schattenreich auftaucht.« Er drehte den Kopf und blickte aus dem riesigen Fenster, das eine ganze Wand einnahm. Im Profil erinnerte er mit dem ausgeprägten Kinn und der gebogenen Nase an die Gesichter der steinernen Statuen, die Machiavelli in vielen, über ganz Südamerika verteilten Tempeln gesehen hatte. »Dein Gebieter und ich sind eng verwandt«, sagte Kukulkan leise und sah dabei wieder den Italiener an. »Nicht blutsverwandt oder durch Einheirat, sondern durch Bande, die in Kriegs- und Notzeiten geschmiedet wurden. Es ist mir eine Ehre, ihn Bruder nennen zu dürfen.«
»Darf ich fragen, unter welchen Umständen du meinen Gebieter kennengelernt hast?«
»In jenen schrecklichen Tagen nach dem Untergang von Danu Talis retteten sich die Überlebenden auf das, was von unserer einstmals gewaltigen Flotte übrig geblieben war. Tagelang trieben wir in unseren Schiffen aus Metall auf brodelnden Lavaseen. Die Luft stank nach Schwefel und vom Himmel regnete es glühende Kohlen und kochendes Wasser. Als mein Schiff auf ein frisch entstandenes Lavariff lief und sank, habe ich als Einziger überlebt. Entgegen dem Wunsch seiner Mannschaft hat er sein Schiff gewendet, einzig und allein, um mich zu retten, obwohl ich von einer anderen Kaste und einem anderen Clan war. Er teilte seine Essens- und Wasserrationen mit mir, und wenn ich verzweifeln wollte, heiterte er mich auf mit Geschichten von der Welt, die war, und der Welt, die kommen wird. Er lehrte mich, dass nach der Zerstörung von Danu Talis eine neue Welt entstehen würde – eine Welt, die weder besser noch schlechter wäre als die untergegangene. Dein Gebieter hat eine Veränderung in mir bewirkt. Durch ihn habe ich erkannt, welches Potenzial in dieser neuen Humani-Rasse steckt. Wir bräuchten sie, sagte er, zum Überleben. Ich habe ihm geglaubt.« Kukulkan erhob sich und schlenderte durchs Zimmer; sein Schlangenschwanz schleifte auf dem Boden hinter ihm her. »Ich tue es immer noch.«
Jetzt, da sich Machiavellis Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, sah er, dass der Raum voller unzähliger Artefakte der Azteken-, Maya- und Olmeken-Kultur war: steinerne Figuren, Goldplatten mit Radierungen darauf, kunstvolle Jademasken und schwarze, mit Edelsteinen besetzte Obsidian-Messer.
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