Nicholas Flamel Bd. 4 Der unheimliche Geisterrufer
dich hassen …?«
Josh lachte, bis er begriff, dass der Vampirin nicht zum Scherzen zumute war. »Ich würde doch nie im Leben …«, begann er.
»Das hat Scathach auch gesagt«, unterbrach Aoife ihn. Sie sah Sophie an. »Du hast meine Frage nicht beantwortet: Was würdest du tun, wenn du deinen Bruder verlieren würdest, wenn er dich plötzlich hassen würde? Würdest du ihn aufgeben? «
»Niemals«, flüsterte Sophie. Allein der Gedanke war erschreckend und bereitete ihr Übelkeit.
Aoife nickte langsam, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Die Handflächen legte sie flach auf die Oberschenkel. »Ich habe Scathach verloren, doch aufgegeben habe ich sie nie. Ich habe zehntausend Jahre in diesem Schattenreich nur auf den einen Moment gewartet, in dem ich ihr sagen kann, ihr zeigen kann, dass ich nie aufgehört habe, sie zu lieben.«
Der Wagen bog auf den Highway 101 Richtung Norden ein und beschleunigte. Alle schwiegen.
Schließlich beugte Perenelle sich vor und legte der Vampirin die Hand aufs Knie. Die Luft war erfüllt vom Knistern statischer Elektrizität. »Du liebst deine Schwester?«
»Ja.«
»Sie dich aber nicht.«
»Das spielt keine Rolle.«
Eine Weile herrschte Schweigen. Perenelles Augen glänzten feucht, als sie schließlich sehr leise fortfuhr: »Vielleicht haben wir dich falsch eingeschätzt. Wenn ja, entschuldige ich mich.«
Aoife stieß ein raues Lachen hervor. »Nein, du hast mich nicht falsch eingeschätzt, Zauberin. Ich bin tatsächlich so schlecht, wie man mich hinstellt.«
Josh drehte sich auf seinem Sitz um. »He, hast du gerade gesagt, du bist seit zehntausend Jahren auf der Erde?«
Sophie nickte. Sie wusste genau, was er fragen würde, und kannte auch schon die Antwort.
»Aber du bist Scattys Zwillingsschwester und sie hat erzählt, sie sei erst zweitausendfünfhundertundsiebzehn Jahre alt. Wie kannst du dann zehntausend sein?«
»Scathach lügt«, antwortete Aoife ohne Umschweife. Sie schüttelte den Kopf. »Sie lügt wie gedruckt. Man kann ihr kein Wort glauben.«
KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG
I ch nehme an, Billy hat dich gewarnt, damit du auch ja meinen Schwanz nicht erwähnst?« Kukulkan saß auf einem geschwungenen steinernen Hocker, in den hässlich grinsende Fratzen eingeritzt waren. Der Schwanz mit den leuchtend bunten Federn ringelte sich um seine Füße; die Schwanzspitze schlug sacht auf den Boden.
Niccolò Machiavelli lehnte sich auf einem von Hand geschnitzten hölzernen Thron zurück, stützte die Ellbogen auf die Armlehnen, legte die Fingerspitzen beider Hände aufeinander und brachte sie vor sein Gesicht. Ein Gefühl der Ruhe überkam ihn. Die Tatsache, dass sie nicht sofort umgebracht worden waren, gab ihm Grund zur Hoffnung. Er holte tief Luft und sammelte sich, bevor er antwortete.
Es war nicht das erste Mal, dass der Italiener sich in einer Lage befand, in der nur sein Verstand und seine Wortgewandtheit ihn vor dem sicheren Tod retten konnten. Er war Gesandter an den prunkvollen Höfen Frankreichs und Spaniens gewesen, wo ein einziges falsches Wort oder ein falscher Blick einem Mann das Leben kosten konnte. Danach hatte er in der päpstlichen Residenz überlebt, wo man dem Tod noch näher war, und darauf in der beispiellos unbarmherzigen und gefährlichen Welt der Borgias, wo Attentate und Giftmorde an der Tagesordnung waren. Das Wesen des Älteren Geschlechts, das ihm hier gegenübersaß und in jeder Hinsicht aussah wie ein Mensch – vom Schwanz und den kohlschwarzen Augen einmal abgesehen –, mochte zehntausend oder noch mehr Jahre alt sein. Doch Machiavelli hatte festgestellt, dass so ziemlich jedes Wesen, dem er in dieser Welt oder den angrenzenden Schattenreichen begegnet war, von ähnlichen Bedürfnissen und Wünschen angetrieben wurde. Die frühen Mythen der Humani waren voller Geschichten, die deutlich machten, wie oberflächlich und kleinkariert die Götter sein konnten. Es hieß, die Götter hätten den Menschen nach ihrem Bilde geschaffen. Wenn das stimmte, hatten die Humani sämtliche Fehler und Schwächen eben dieser Götter geerbt.
Kukulkans Schwanz zuckte, während er auf eine Antwort wartete.
Schließlich lächelte Machiavelli. »Billy hat vielleicht angedeutet, dass es besser wäre, ich würde den Schwanz nicht erwähnen.« Aus dem Augenwinkel sah er, wie der Amerikaner entsetzt die Augen schloss. »Aber ich muss sagen«, fügte er hinzu, »dass ich noch nie jemanden mit einem so schmückenden Schlangenschwanz gesehen habe.«
Billy
Weitere Kostenlose Bücher