Nicholas Flamel Bd. 4 Der unheimliche Geisterrufer
provozierte ihn ganz bewusst. Wenn Dee eine Schwäche hatte, dann die, dass er den Klang seiner eigenen Stimme liebte. »Sag mir lieber, was du vorhast.«
»Als Erstes hole ich Coatlicue aus ihrem Gefängnis und lasse sie auf die Schattenreiche los«, sagte er, während seine verbrannten Finger sich mit der roten Seide abmühten.
Virginia beobachtete ihn genau, machte jedoch keine Anstalten, ihm zu helfen.
»Das Ältere Geschlecht wird gezwungen sein, einen Großteil seiner Streitkräfte auf der Erde in die Schattenreiche abzuberufen, damit sie dort gegen die Mutter aller Götter kämpfen. Was hier passiert, ist ihnen derweil egal. Inzwischen sollte Machiavelli auch die Ungeheuer auf Alcatraz auf die Stadt losgelassen haben.«
Virginia blinzelte überrascht, wusste aber, dass sie ihn jetzt nicht unterbrechen durfte.
Die rote Seide glitt zur Seite und enthüllte ein einfaches Steinschwert. Der Griff war völlig schmucklos und die Klinge poliert, sodass sie aussah wie Metall. Dee schaute Virginia an und seine Augen blitzten. »Erkennst du es?«, fragte er.
»Eines der Kraftschwerter«, flüsterte sie. »Welches?«
»Durendal«, antwortete er ebenso leise.
»Das unzerstörbare.« Dare trat näher an den Tisch und betrachtete die uralte Waffe. »Diese alten Spielsachen haben dich schon immer fasziniert, Doktor, nicht wahr?«
»Ein einhändiger Mann hat mir einmal die Zukunft vorausgesagt. Nach seinen Worten ist mein Schicksal eng mit diesen Schwertern verbunden.«
»Ich habe es mir eindrucksvoller vorgestellt.«
Der Magier zog an dem dicken Band, das eng um den in grünes Leder eingeschlagenen Gegenstand geknotet war. »San Francisco wird den Bestien rasch zum Opfer fallen«, fuhr er fort, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen. »Die Humani-Armeen werden sich nicht gegen die Monster behaupten können. Allein der Angstfaktor verschafft uns ungeheure Vorteile. Und in allen größeren Städten gibt es geheime Verstecke, die voll sind von solchen Kreaturen. Die Welt wird innerhalb weniger Tage im Chaos versinken.«
»Und was passiert mit denjenigen Älteren, die sich weigern, die Welt der Menschen zu verlassen, um in den Schattenreichen gegen Coatlicue zu kämpfen?«, fragte Virginia. »Und mit den Unsterblichen, die sich nicht mit den dunklen Älteren verbündet haben? Sie werden den Kampf gegen die Ungeheuer aufnehmen.«
»Oh, damit rechne ich fest«, murmelte Dee. Zwei der Schnüre, an denen er herumgefummelt hatte, hatten sich gelöst, doch den Knoten an der dritten Schnur bekam er nicht auf. Er sah Virginia an. »Würdest du …?«
»Ich fasse die Dinger nicht an.« Virginia zog ein Messer mit kurzer flacher Klinge aus ihrem Ärmel und warf es dem Magier zu.
Er fing es geschickt auf und schnitt den letzten Knoten entzwei. »Ich weiß von den meisten Älteren und Unsterblichen, wo sie sich hier in dieser Welt aufhalten. Sobald sie aus ihren Verstecken kommen, kann ich sie mir einen nach dem anderen greifen. Wenn ich mit ihnen fertig bin, werden du und ich die letzten Unsterblichen auf diesem Planeten sein. Meine Gebieter haben mir diese Welt versprochen; jetzt nehme ich sie mir zu meinen Bedingungen.«
»Und teilst sie mit mir«, erinnerte Virginia ihn.
»Und teile sie mit dir«, bestätigte er.
»Du hast mir immer noch nicht gesagt, wozu du mich brauchst.«
»Aber, meine Liebe, du spielst die zentrale Rolle in meinem Plan.« Er machte eine kurze Pause, blickte auf und lächelte verschmitzt. »Ich habe immer gewusst, dass wir irgendwann zusammenfinden würden.«
»Ach ja?«
»Wir sind aus einem Holz geschnitzt, wir beide.«
»Oh ja«, murmelte Virginia, »da hast du sicher recht.« Dann senkte sie den Kopf und schwieg.
Dee kannte sie fast sein ganzes Leben lang und hatte immer noch keine Ahnung, was sie eigentlich war oder wozu sie fähig war. Er war im elisabethanischen Zeitalter aufgewachsen und sein Frauenbild war von dieser Epoche geprägt. Virginia war überzeugt, dass dies einer der vielen Gründe war, weshalb er – und Machiavelli genauso – Perenelle Flamel immer unterschätzt hatten.
Dee faltete das grüne Leder vorsichtig auf und enthüllte das genaue Ebenbild des ersten Schwertes.
»Das Pendant dazu«, sagte Virginia Dare überrascht. »Es muss Joyeuse sein, das Schwert von Karl dem Großen.«
»Es war das Erste in meiner Sammlung«, erklärte der Magier. »Und jetzt habe ich alle vier.« Dee legte Excalibur und Clarent neben die ersten beiden Schwerter.
Wie sie so auf der Glasplatte
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