Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
bestrichen, und dann lässt man es in die dicht an dicht stehende Flotte des Feindes segeln, wo es explodiert und Chaos auslöst.
Josh wusste, dass es nicht seine eigenen Erinnerungen waren, und er ging auch nicht davon aus, dass sie etwas mit Clarent zu tun hatten. Die Erinnerungen, die ihn überkamen, wenn er das Schwert des Feiglings in den Händen hielt, verursachten ihm immer leichte Übelkeit. Diese Erinnerungen, diese Gedanken dagegen waren anders. Sie waren aufregend, berauschend, und in den wenigen Augenblicken, in denen alles ganz langsam abgelaufen war, als es für jedes Problem eine Lösung gegeben hatte und nichts unmöglich erschienen war, hatte er sich wirklich lebendig gefühlt. Als diese fremden Erinnerungen ihn überflutet hatten und die Welt sich nur noch in Zeitlupe drehte, hatte er keinen einzigen Moment daran gezweifelt, dass sie entkommen würden. Er hatte zwei oder drei Schritte im Voraus geplant. Er hatte gewusst, dass sich ihm ein weiteres Dutzend Möglichkeiten aufgetan hätte, falls es ihm nicht gelungen wäre, den Diesel mit der Leuchtrakete zu entzünden.
»Wie fühlst du dich?«, fragte Dee. Er hatte das Boot gewendet, sodass sie jetzt wieder auf Alcatraz zuhielten, doch sein Blick war auf Josh gerichtet.
»Müde.« Er fuhr sich mit der Zunge über die salzverkrusteten Lippen und blickte auf die Wellen. »Ich hatte gehofft, dass Virginia in der Zwischenzeit aufgetaucht wäre …«
Dee ließ den Blick kurz über das Wasser schweifen. »Sie wird schon kommen. Sie kommt immer wieder.«
Der Magier ließ das Boot einen großen Kreis beschreiben, und Josh beugte sich über die Seite und suchte das Wasser nach der Unsterblichen ab, entdeckte jedoch keine Spur von ihr. »Ob die Nereiden sie erwischt haben?«
»Das bezweifle ich. Wenn sie wissen, was gut für sie ist, lassen sie sie in Ruhe.«
»Sie sind ebenfalls verschwunden.«
»Aber sie kommen zurück«, versicherte ihm Dee. Er trat zur Seite, damit Josh das Steuer wieder übernehmen konnte. Alcatraz ragte vor ihnen auf. »Dann wollen wir uns mal anschauen, wie unser Freund aus Italien die Ungeheuer freilässt.«
KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
D ie Zeit ist gekommen.« Perenelle nahm die Hände vom Gesicht. Ihre Augen schwammen in milchfarbenen Tränen und ihre Wangen waren nass. »Prometheus. Niten. Würdet ihr uns bitte einen Augenblick allein lassen?«, bat sie leise.
Der Ältere und der Unsterbliche schauten sich an, nickten beide und verließen dann wortlos den Raum. Jetzt standen nur noch Perenelle, Tsagaglalal und Sophie um das Bett herum.
Sophie betrachtete Nicholas Flamel. Der Alchemyst wirkte friedlich und gefasst. Die tiefen Falten, die die Ereignisse der letzten Tage in sein Gesicht gegraben hatten, waren teilweise verschwunden, und für einen Augenblick sah sie wieder den gut aussehenden Mann vor sich, der er einmal gewesen war. Sie schluckte hart. Sie hatte ihn immer gemocht und wusste, dass Josh und er sich in den Wochen, in denen ihr Bruder bei ihm in der Buchhandlung gearbeitet hatte, ziemlich nahgekommen waren. Josh hatte sich immer zu Autoritätspersonen wie Lehrer oder Trainer hingezogen gefühlt. Das mochte daran gelegen haben, dass ihre Eltern so oft nicht zu Hause waren. Jedenfalls wusste Sophie, dass ihr Bruder zu Nicholas Flamel aufgeschaut hatte.
Perenelle stellte sich ans Kopfende des Bettes. Der kunstvoll verzierte blaugoldene Traumfänger hinter ihr umrahmte ihren Kopf wie ein Heiligenschein. »Tsagaglalal, Sophie. Ich weiß, dass ich kein Recht habe, das von euch zu verlangen.« Ihr französischer Akzent war deutlich herauszuhören und ihre grünen Augen schimmerten feucht. »Aber ich brauche eure Hilfe.«
Tsagaglalal verbeugte sich leicht. »Du kannst auf mich zählen«, sagte sie, ohne zu zögern.
Sophie überlegte einen Augenblick, bevor sie antwortete. Sie wusste nicht, was Perenelle von ihnen wollte, nahm aber an, dass es etwas mit dem Leichnam zu tun hatte. Sie hatte noch nie einen Toten gesehen, und bei dem Gedanken, dass sie ihn berühren sollte, sträubte sich alles in ihr. Als sie aufschaute, sah sie die Blicke der beiden Frauen auf sich gerichtet.
»Ich kann nicht … Ich meine … Was soll ich tun? Ich helfe dir natürlich. Aber eine Leiche waschen oder so kann ich nicht. Ich fürchte, ich könnte sie nicht einmal berühren. Ihn«, verbesserte sie sich rasch.
»Nein, darum geht es nicht«, versicherte ihr Perenelle. Sie strich mit den Fingern zärtlich über das kurze Haar ihres Mannes.
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