Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
Silberne Strähnen blieben daran hängen. Sie lächelte. »Und außerdem ist Nicholas nicht tot. Noch nicht.«
Schockiert blickte Sophie den Alchemysten noch einmal an. Sie hatte angenommen, dass er einfach für immer eingeschlafen war. Doch als sie jetzt genauer hinschaute, sah sie das kaum wahrnehmbare, unregelmäßige Pulsieren der Halsschlagader. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihr erwecktes Gehör. Beim intensiven Lauschen konnte sie tatsächlich seinen langsamen – sehr langsamen – Herzschlag hören. Der Alchemyst lebte – doch wie lange noch? Sie öffnete die Augen wieder und sah die Zauberin an. »Was soll ich tun?«, fragte sie drängend.
Perenelle nickte ihr dankbar zu. Sie spreizte die Finger und umschloss mit beiden Händen den Kopf ihres Mannes. »Als ich ein kleines Mädchen war«, begann sie, den Blick verträumt in die Ferne gerichtet, »bin ich einem Mann mit blauen Augen, einem Kapuzenumhang und einem Metallhaken anstelle seiner linken Hand begegnet.«
Tsagaglalal zog scharf die Luft ein. »Du bist dem Tod begegnet! Das wusste ich nicht.«
Perenelle lächelte traurig. Wehmütig. »Du hast ihn auch gekannt?«
Die alte Frau nickte bedächtig. »Ich bin ihm auf Danu Talis begegnet, kurz vor dem Untergang. Und dann noch einmal am Ende. Abraham kannte ihn auch.«
Sophie drehte sich langsam zu Tsagaglalal um. Hatte ihre Tante gerade behauptet, sie sei auf Danu Talis gewesen? Wie alt war sie? Bruchstückhafte Bilder und Erinnerungen flackerten auf …
… von einer schönen jungen Frau mit grauen Augen, die ein in Metall eingeschlagenes Buch an ihre Brust drückt und die endlos lange Treppe in einer unwahrscheinlich hohen Pyramide hinaufhastet. Gestalten stürmen an ihr vorbei, menschliche und nicht menschliche, Ungeheuer und wilde Tiere. Sie fliehen vor den Blitzen der ungezügelten Magie, die über ihnen zuckt. Eine dunkle Gestalt erscheint an der Spitze der Pyramide, ein Mann mit einem glänzenden Haken anstelle seiner linken Hand. Aus dem Haken tropft blassblaues Feuer …
Perenelles Stimme drang in ihre Erinnerungen und holte Sophie in die Gegenwart zurück. »Ich war sechs Jahre alt, als meine Großmutter mich zu dem Mann mit dem Kapuzenumhang mitnahm.« Schlieren von Perenelles eisiger Aura lösten sich von ihrer Haut, waberten um sie herum und hüllten sie in ein weißes Gewand. »In einer Höhle mit Kristallen an den Wänden hat er mir in der Bucht von Douarnenez meine Zukunft vorausgesagt. Und er hat mir von einer Welt erzählt, einer unbeschreiblichen, magischen Welt voller Träume und Wunder.«
»Von einem Schattenreich?«, fragte Sophie leise.
»Lange Zeit glaubte ich das, aber jetzt weiß ich, dass er diese moderne Welt gemeint hat.« Perenelle schüttelte den Kopf. Dann wechselte sie die Sprache, redete zunächst in Französisch weiter und danach in dem alten bretonischen Dialekt, der in ihrer Jugendzeit gesprochen worden war. »Der Mann mit der Hakenhand sagte mir voraus, dass ich der Liebe meines Lebens begegnen und unsterblich werden würde.«
»Nicholas Flamel«, sagte Sophie und blickte erneut auf den reglosen Körper auf dem Bett.
»Ich war sehr jung«, fuhr Perenelle fort, als hätte sie Sophies Bemerkung nicht gehört, »und auch wenn man damals noch an Magie glaubte – du darfst nicht vergessen, es war im frühen vierzehnten Jahrhundert –, wusste selbst ich, dass die Menschen nicht ewig leben. Ich dachte, der Mann sei verrückt oder einfältig. Aber wir respektierten solche Menschen damals, hörten auf sie und nahmen ihre Prophezeiungen ernst. Jahrhunderte später erst habe ich den Namen des Mannes mit der Hakenhand erfahren: Marethyu.«
»Tod«, übersetzte Tsagaglalal noch einmal.
»Er prophezeite mir, dass ich als ganz junges Mädchen heiraten würde …«
»Nicholas«, murmelte Sophie – und war überrascht, als Perenelle den Kopf schüttelte.
»Nein. Nicholas war nicht mein erster Mann. Es gab noch einen anderen, er war älter als ich, Landbesitzer und von niederem Adel. Er starb kurz nach unserer Heirat und ließ mich als reiche Witwe zurück. Ich hätte mir unter vielen Bewerbern einen neuen Ehemann aussuchen können, aber ich ging nach Paris und verliebte mich in einen mittellosen Schreiber, der auch noch zehn Jahre jünger war als ich. Als ich Nicholas zum ersten Mal sah, fiel mir ein, dass Marethyu prophezeit hatte, mein Leben sei einmal voller Bücher und Geschriebenem. Daher wusste ich, dass seine Prophezeiungen eintreffen
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