Nicholas Flamel Bd. 5 Der schwarze Hexenmeister
würden.«
Die Temperatur in dem Raum war gesunken. Es war zuerst kühl, dann kalt geworden. Sophies Atem bildete eine weiße Wolke vor ihrem Gesicht, und sie widerstand der Versuchung, die Hände aneinanderzureiben, damit sie warm wurden. Die Aura der Zauberin strömte von ihrem Körper weg, ballte sich hinter ihr zusammen und blähte sich dann zu zwei großen weißen Flügeln auf. Sophie spürte, wie ihre eigene Aura knisternd über ihre Haut kroch. Als sie zu Tsagaglalal hinüberschaute, sah sie, dass deren Umrisse hinter dem blassen Dunst ihrer Aura verschwammen. Wie die Zauberin war auch sie in ein weißes Gewand gehüllt. Dann blickte Sophie an sich selbst hinunter und erschrak. Sie steckte in einem langen silbernen Kleid, das vom Hals bis zu den Knöcheln reichte. Ihre Hände verschwanden unter den langen weiten Ärmeln.
»Marethyu – ich hatte den Mann fast vergessen, bis er eines Tages in unserer Buchhandlung auftauchte«, fuhr Perenelle fort. Während sie erzählte, presste sie weiterhin beide Hände auf Wangen und Schläfen ihres Mannes, und hauchdünne Fäden seiner grünen Aura lösten sich von seiner Haut, stiegen auf und zerplatzten in der Luft. »Es war an einem Mittwoch. Ich erinnere mich daran, als sei es gestern gewesen, weil dies der einzige Tag in der Woche war, an dem ich Nicholas nicht im Laden half. Ich bin überzeugt, Marethyu hat diesen Tag ganz bewusst gewählt, weil er allein mit meinem Mann sprechen wollte. Als ich nach Hause kam, war die Buchhandlung geschlossen, obwohl es erst früher Nachmittag und noch hell war. Nicholas saß im Hinterzimmer, das strahlend hell erleuchtet war. Auf sämtlichen freien Flächen standen brennende Kerzen. Ein Dutzend hatte er so auf einem Tisch arrangiert, dass sie einen kleinen rechteckigen Gegenstand aus Metall umgaben. Es war der Codex, das Buch Abrahams des Weisen. Als ich es zum ersten Mal sah, reflektierte der Einband das Licht wie eine kleine Sonne. Noch bevor Nicholas den Mund öffnete, um mir zu sagen, worum es sich handelte, wusste ich es. Ich hatte den Codex nie zuvor gesehen, wusste aber genau, wie er aussehen würde.«
»Marethyu«, murmelte Tsagaglalal und nickte. Tränen rollten ihr über die faltigen Wangen. »Ja, er hatte ihn.«
»Woher weißt du?«, fragte Sophie leise. Doch noch während sie die Frage stellte, kam ihr die Antwort …
»Weil ich ihn ihm gegeben habe«, erwiderte Tsagaglalal, und ihre Aura loderte kurz auf.
Die Erinnerung traf Sophie wie ein Schlag.
Blitze zucken über den Himmel, der Boden speit Feuer, riesige Platten brechen von der Pyramide … Und die junge Frau mit den grauen Augen wirft dem Mann mit der Hakenhand ein Buch mit metallenem Einband zu …
Sophie schwankte und die Bilder verblassten.
Inzwischen war es im Zimmer eiskalt geworden, und die glitzernde Patina des Frostes begann, alles zu überziehen. Ein Teil von Perenelles Aura hatte sich auf dem Boden verteilt und waberte dort wie Nebel umher, während der Rest weiter wie riesige weiße Flügel über ihren Schultern pulsierte. Ein paar Aurastränge schlängelten sich über ihre Hände und wickelten sich um ihre Finger, bevor sie sich wie Würmer über Nicholas’ Schädel ringelten.
»Ich war noch ein Kind, als Marethyu mir sagte, dass mein Mann und ich die Wächter eines in Metall gebundenen Buches werden würden. Dass wir die Letzten in einer langen Reihe von Menschen wären, die diesen kostbaren Gegenstand beschützten. Er behauptete, das Buch enthielte das gesamte Wissen der Welt. Doch als ich es dann sah, wusste ich, dass dies nicht stimmen konnte. Es hatte nur so wenige Seiten. Wie konnte das gesamte Wissen der Welt auf einundzwanzig Seiten zusammengefasst sein? Erst viel später kamen Nicholas und ich hinter das Geheimnis des Codex mit seinem ständig wechselnden Text.«
»Ihr konntet ihn nicht sofort lesen?«, fragte Sophie. Es war nicht einmal ein Schock, als ihr bewusst wurde, dass sie in derselben Sprache gesprochen hatte wie Perenelle.
»Nein. Das gelang uns erst mehr als zwei Jahrzehnte später.« Perenelles Haut leuchtete in einem eisweißen Licht. Auf ihren Handrücken war ein Netz aus rosafarbenen Venen zu sehen. Das Licht hatte sich in ihren grünen Augen gesammelt und ihnen alle Farbe genommen, sodass sie jetzt aussah, als sei sie blind. »Mit der Zeit bewahrheitete sich alles, was Marethyu prophezeit hatte …« Ihr Seufzer blieb als dicke weiße Wolke in der kalten Luft stehen. »Bis nur noch eine Prophezeiung
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