Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
auch in einem sozialistischen, säkularisierten Staat engagieren und die großen Themen des Glaubens zur Sprache bringen sollten. Damals haben kritische Pfarrer, zu denen ich mich immer zählte, einen gewissen Zugang zu der Formulierung »Kirche im Sozialismus« gefunden. Wir haben sie schlicht als Ortsbeschreibung betrachtet und nicht als Parteinahme für den Sozialismus verstanden.
Mit dieser Grundhaltung konnte man auch gut zu Kompromissen stehen. Schon die Wortschöpfung war übrigens ein Produkt von Kompromissdebatten, vermied sie doch die Parteinahme für den Sozialismus, ermöglichte dem Staat jedoch zu erkennen, dass die evangelische Kirche »diesseitig«, also nicht einseitig westlich orientiert war.
Es gab in der DDR deutliche Unterschiede der einzelnen Landeskirchen. Es gab ja nicht die evangelische Kirche, sondern verschiedene eigenständige Landeskirchen. In Thüringen zum Beispiel wurde früh ein Weg der Staatsnähe beschritten, sodass Pfarrer meiner Couleur deutlich in eine Minderheitsposition gerieten, während sie in Mecklenburg in einer Mehrheitsposition waren. In Vorpommern war das zunächst ähnlich; aber von einer gewissen Zeit an suchte auch dort das Kirchenregiment eine deutliche Staatsnähe. In der bedeutenden sächsischen Kirche hat sich immer ein maßgebliches Protestpotential gegen die Allmachtsgebärden des Sozialismus behauptet. Auch in Berlin-Brandenburg hat trotz mancher Nähe zu den Erwartungen des Staates in den letzten Jahren der DDR (insbesondere im Berliner Raum und in manchem Bereich auch in der Landeskirche) an der Basis ein Protestpotential existiert, das in anderen Bereichen der Gesellschaft undenkbar war.
Selbst in solchen Landeskirchen, in denen die Führung das Wort »Kirche im Sozialismus« stärker als Kirche für den Sozialismus verstand, gab es oft eine lebendige Gegenkultur, auch wenn man mit etwas Fairness sagen muss, dass nicht jede dieser Gemeinden bereit war, oppositionellen politischen pressuregroups Raum zu gewähren. Aber wo, wenn nicht in der Kirche, konnten diese Gruppen Treffen abhalten? Das Spektrum der Gegenkultur war breit. Zum Beispiel konnten Menschen, die gleichgeschlechtlich orientiert sind, sich zuerst in Kirchen treffen und ihre Gruppen bilden. Auch die Ökologiebewegung fand zuerst unter dem Dach der Kirche Raum.
Pfarrer an der Basis mussten natürlich den Weg des Kompromisses suchen, und in den Synoden wurde oftmals heftig darum gerungen, ob die jeweiligen Kompromisse auch verantwortbar waren. Hier gabelte sich ein Weg: Es gab Leute, denen der Friede mit der Macht wichtiger war als die Authentizität des christlichen Zeugnisses. Und wir erleben heute, auch wenn uns diese Weggabelung damals nicht so bewusst war, dass das für manche Entscheidung eine sehr wichtige Frage ist. Einzelne Personen aus Kirchenleitungen stellen Kontakte mit der Staatssicherheit heute als etwas Gebotenes dar; in meinem Verständnis von Kirche und in dem meiner Landeskirche war diese Auffassung nicht enthalten.
Ich will mir heute nicht von der Minderheit der IM in der Kirche beziehungsweise denen, die auf andere Weise zu verständnisvoll und hilfsbereit waren, erklären und noch nachträglich bestimmen lassen, welche Regeln des Handelns damals geboten waren.
Es gilt aber auch einer Argumentation zu wehren, derzufolge ein realitätsbezogener Ansatz dem politisch und moralisch rigorosen gegenüberstand. Diese Argumentation wird von der Vorstellung beherrscht, die bestimmenden Größen innerhalb der Kirche seien zwei äußerst gegensätzliche Gruppen gewesen: einerseits die von Bärbel Bohley, Friedrich Schorlemmer, Werner Schulz, Ulrike Poppe, Wolfgang Templin, Freya Klier und anderen Bürgerrechtlern, andererseits eine Führung, die von Personen wie Manfred Stolpe geprägt wurde.
Die Wirklichkeit in der evangelischen Kirche war anders: Nicht die verdienstvollen, damals oft für politisch unrealistisch gehaltenen Basisgruppen waren die bestimmenden Größen, auch nicht die »Diplomaten«, sondern die übergroße Zahl von Gemeinden, Gemeindekreisen, kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit ihren eigenen Bekenntnis- und Kompromisssituationen. Sie waren es, die im Spannungsfeld zwischen Bekenntnis und Kompromiss die Grundhaltung des Lebens in den Kirchen der DDR prägten. Es gab für sie zwar aktuelle und konkrete Anlässe, mit dem MfS über eine Inhaftierung oder andere Repressionen zu sprechen. Derartiges musste jedoch keinesfalls konspirativ geschehen.
Auch im
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