Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
die fern vom Leid und im Grunde fern von den Prägungen speziell östlicher Entfremdung den mainstream der Entscheidung bestimmen, wie der Osten die Vergangenheit aufzuarbeiten hat. Sie sollen respektieren, dass es eine Würde der Unterdrückten gibt, die an dieser Stelle eine Zurückhaltung des Urteils gebietet. Die Bearbeitung der Vergangenheit sollte insofern auch als schmerzhafte Begegnungskrise verstanden werden, die intellektuelle Bewältigung kann bestenfalls Teil der Bemühungen sein.
Ich erwarte also insbesondere von der politischen Klasse und von den Gesprächspartnern des kulturellen Westens, dass sie ein strukturell bedingtes Defizit an Wahrnehmungsfähigkeit einräumen, das nicht schuldhaft ist, sondern sich aus dem unterschiedlich gelebten Leben herleitet. Wir Bewohner des ehemaligen Ostens haben im Übrigen ein vergleichbares Unvermögen, Entfremdungserfahrungen, die der westliche way of life bewirkt hat, nachzuvollziehen. Wir sind eben noch nicht eins, seit wir eins wurden. Und wie sich bei Menschen, die sich lieben, aus der Liebe allein nicht eine gleich fühlende Partnerschaft ergibt, so ergibt sich aus der Euphorie und Geneigtheit der Deutschen zueinander, die sich im Herbst und Winter 1989/90 zeigte, noch nicht eine wirklich gleich schwingende Nähe. Wir müssen respektieren, dass es Lebensbereiche gibt, in denen der andere nicht dieselbe authentische Erfahrung besitzt. Wir werden sicher erst nach einer Generation jenes Maß an innerer Einheit haben, das ein umkomplizierteres gegenseitiges Verstehen ermöglicht.
Dass ich stolz darauf wäre, ein DDR-Bürger zu sein, so etwas kam mir nie über die Lippen. Aber ich entdecke heute in mir so etwas wie ein gelassenes Selbstbewusstsein. Ich möchte zu dem Leben, das ich gelebt habe, stehen. Wolf Biermann hat in einem spöttischen Lied gesungen: »Die Stasi ist mein Eckermann«. So weit wird man in der Regel nicht gehen können. Aber dass auch in einer perfiden Buchführung etwas aufgehoben ist von einem ernsten Willen großer Bevölkerungsgruppen, Anstand zu bewahren, Widerstandsgesinnung und Zivilcourage zu leben, das ist deutlich.
Freilich ist in den Stasi-Unterlagen auch evident, wie in diesem deutschen Volk der vorauseilende Gehorsam funktioniert. Und wahrscheinlich ist es in Deutschland leichter gewesen, einen Stasi-Mitarbeiter zu rekrutieren, als in unserem polnischen Nachbarland, wo der Geist der Auflehnung allemal früher weht als in Deutschland. Oftmals erstaunlich schnell gelang es Stasi-Agenten sogar, Alt-Bundesbürger anzuwerben, nicht nur durch Geld, was im Westen häufiger passierte als im Osten: Bundesbürger waren gelegentlich sehr einfühlsam, manchmal gar devot. Offensichtlich ist ein starkes demokratisches Selbstbewusstsein auch nach Jahrzehnten nicht selbstverständlich in einem Land, in dem der Untertanengeist Tradition hatte. Vielleicht sind die Holländer, die Amerikaner oder die Briten resistenter gegen den vorauseilenden Gehorsam, den sich ein Geheimdienst immer zunutze macht. Aber sicher bin ich mir auch da nicht.
Heute begegnen uns gelegentlich Journalisten, manchmal auch Literaten, die in Bezug auf die Arbeit der Behörde für die Stasi-Unterlagen von einer neuen Inquisition sprechen. Ich lasse diejenigen aus, die in der Nähe der SED ihre ehemalig vorzügliche Alimentierung als etwas Normales hinstellen möchten und keine Lust haben, im Nachhinein die Wirklichkeit kennenzulernen. Aber es gibt eine Gruppe von Menschen, die sich dafür rächen will, dass ihre Ideale oder Träume, die sie vermeintlich in der DDR verwirklicht sahen, ruiniert worden sind. Sie halten diejenigen, die heute die Topographie des alltäglichen Stalinismus nachzeichnen, für die eigentlichen Sünder und nicht diejenigen, die die Verhältnisse geschaffen haben.
Hier gibt es eine groteske Bundesgenossenschaft bestimmter Journalisten, die den Zeitgeist befriedigen wollen, mit PDS-nahen Teilen der Bevölkerung, natürlich massiv unterstützt von Mitgliedern der früheren Machtapparate.
Wer heute so vor einer neuen Inquisition warnt, teilt oftmals nicht mit, dass die Behörde für die Stasi-Unterlagen überhaupt keine Entscheidungen zu fällen hat, sondern dass sie nur zwischen dem Aktengut und den Antragstellern vermittelt. In der Behörde wird also der Daumen weder gehoben noch gesenkt. Die sogenannten Vorverurteilungen dieser Behörde erweisen sich beim näheren Hinsehen als reine Sachaussagen und keineswegs als Urteile, schon gar nicht als
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