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Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)

Titel: Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Gauck
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Lager der politischen Realisten gab es ein klares Wissen über den Auftrag der Stasi und deshalb ein vielfach ausgesprochenes Distanzgebot. So hat beispielsweise die Kirchenleitung der evangelisch-lutherischen Landeskirche Mecklenburg in einer Erklärung vom 20. Mai 1992 eindeutig festgehalten, dass auch bei noch so schwierigen Verhandlungssituationen kein kirchlicher Mitarbeiter berechtigt war, klandestin mit der Stasi zu verhandeln.
    Teilhabe an antidemokratischer Macht konnte zwar Lebensräume erweitern, hatte aber einen entscheidenden Verlust an Glaubwürdigkeit zur Folge. Die große Mehrheit der Pfarrerschaft und aller Mitarbeiter der Kirche, hoffentlich auch der Kirchenleitungen, hat dies gewusst.
    Und so konnten substantielle Erfahrungen durch diese Minderheitenexistenz gewonnen werden: Es wuchs Vertrauen nicht nur innerhalb der Gemeinden, sondern, 1988/89 erlebbar, darüber hinaus. Aus der Glaubwürdigkeit und Authentizität von Menschen, die ihrem Glauben und ihrer Hoffnung verpflichtet blieben, entstand die enge und breite Zusammenarbeit zwischen Kirche und Bevölkerung. So lernten wir gerade in diesem Teil Deutschlands, dass Ausschluss von Macht gleichzeitig Gewichts- und Bedeutungszuwachs mit sich brachte.
    Und die Kirche hat gelernt: Es lohnt, dem eigenen Glauben und der eigenen Hoffnung treu zu bleiben. So hat die gesamte Kirche, indem sie Gegenstrukturen menschlichen Vertrauens lebte und sich intern demokratische Grundsätze zu eigen machte, einen wichtigen Anteil daran, dass sich der Sozialismus erledigt hat. Gott sei Dank.
    Wenn heute aus politischem Kalkül so getan wird, als habe es eine »Verantwortungsethik« gegeben, aus der heraus alles zu tolerieren war außer nacktem Verrat, dann besteht die Gefahr, sowohl die Würde der Unterdrückten als auch die Kämpfe, Opfer und Einsichten der glaubwürdigen Mehrheiten in der Kirche zu verraten.
    Mich soll Tagespolitik nicht dahin bringen.
    Meine Beschäftigung mit den Stasi-Akten hat mich mancherlei gelehrt. Erstens erfahren wir heute voller Staunen, dass weit weniger Menschen Akten haben, als sie es vermuten. Grob geschätzt erfahren gegenwärtig fünfzig Prozent der Antragsteller auf Akteneinsicht bei uns, dass keine Akte über sie vorliegt. Oftmals erzeugt das Protest und Verdächtigungen: Dann ist die Akte wohl weggebracht, heißt es, oder gar: Ihr habt sie weggebracht. Meine Mitarbeiter in den Außenstellen werden gelegentlich beschimpft. Wir konstatieren also, dass die Staatssicherheit, die ziemlich effektiv war, dennoch in ihrer Effektivität drastisch überschätzt wurde. Dies lehrt ein Doppeltes: wie schnell Unterdrückte dazu neigen, das Maß ihrer Unterdrückung zu überschätzen, und wie tüchtig dieser Teil der Staatsmacht gewirkt hat, wenn er durch das Vorzeigen der Instrumente so viele Menschen in die Angst versetzte, täglich und konkret überwacht zu werden. Das ist ein Effekt, mit dem die Machthaber trefflich arbeiten konnten.
    Aus der konkreten Arbeit mit den Stasi-Unterlagen haben wir weiter lernen können, dass teuflische Akten gleichwohl aussagefähige Akten sein können. Das heißt, dass zum Beispiel die Kooperation von Personen mit dem MfS durch Ergebnis- und auch Observierungsberichte mit einem zureichenden Maß an Genauigkeit dokumentiert worden ist. Es gibt auch andere Sorten von Stasi-Akten, in denen nicht eine derartige Genauigkeit walten musste, vielleicht auch nicht walten konnte. Das sind zum Beispiel Planungsdokumente oder Berichte über eigene Erfolge, Einschätzungen von Personen, in denen das neurotisch oder ideologisch bedingte Wahrnehmungsdefizit der Staatssicherheit Unschärfen und Verzeichnungen verursachte. Die Erwartungen, die man etwa in einen Professor oder einen kirchlichen Mitarbeiter setzte, wurden in einer Weise niedergeschrieben, die die Möglichkeiten der Stasi als rundum wirksam darstellt. Wenn man zum Beispiel schrieb, man wolle einen Menschen steuern, dann geschah dies ohne jeden Vorbehalt, dass dieser Mensch möglicherweise ein ganz eigenes Konzept der Kontakte mit der Staatssicherheit hatte oder dass sogenannte Erfolge bei der Disziplinierung eines Menschen unter Umständen einfach den vernünftigen Überlegungen des Betroffenen entsprangen und nicht den Druckmaßnahmen. Kurz, die Beschreibung der Möglichkeiten, die die Stasi bei Menschen zu haben glaubte, die Pläne der Staatssicherheit generell, die Menschenbilder, die sie entwickelte, müssen kritisch betrachtet werden; insofern ist ein

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